Philipp von Lattorff: Ob’s heuer besser wird, kann ich nicht sagen. Man muss das Thema aber von verschiedenen Seiten betrachten: Wir sprechen immer noch von einer relativ geringen Anzahl von Arzneimitteln, die von Lieferschwierigkeiten betroffen sind – es sind ca. 2 Prozent. Es handelt sich dabei meist um Generika, also patentfreie Produkte, die seit Jahrzehnten am Markt und sehr billig sind. Deshalb wird in Niedriglohnländern produziert und in vielen Fällen ist die Produktion auf einen einzelnen Hersteller konzentriert. Das macht Lieferketten anfälliger für Störungen und es gibt oft lange Lieferzeiten. Unangenehmerweise betrafen die Lieferengpässe hauptsächlich Antibiotika und Erkältungspräparate für Kinder. Innovative Medikamente hingegen waren in der Regel verfügbar. Diese Art von Arzneimittel wird auch zum guten Teil in Europa produziert. Bekannte Ausnahme war ein Diabetesmedikament, das als Abnehmmittel gehypt wird - aber das ist ein sehr spezifischer Grund.
➤ Mehr lesen: Engpässe bei Abnehmspritze: Vorerst nur noch für Diabetiker?
In Österreich gibt es seit ein paar Jahren eine Verordnung, die die Arzneimittelversorgung sicherstellen soll. Bei Lieferengpässen kann das BASG (Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen) ein Parallelexportverbot aussprechen. Das heißt, dass Arzneimittel nicht in ein anderes EU-Land teurer weiterverkauft werden dürfen. Österreich gilt im EU-Schnitt als Niedrigpreisland und ohne die Verordnung wäre die Situation sicher schlimmer gewesen. Denn oft werden Arzneimittel in EU-Länder mit einem höheren Preisniveau – wie etwa Deutschland oder Dänemark – exportiert.
Heuer wurde von den Herstellern besser vorgesorgt, aber bei Arzneimitteln, die so billig sind – ein Kaugummi kostet mehr als so manches Medikament – kann man sich keine großen Wunder erwarten. Der hohe Kostendruck bedingt eine reduzierte Lagerhaltung und eine rasche Produktionsausweitung ist aufgrund langer Vorlaufzeiten nicht möglich.
Was ist nötig, um die Versorgungslage zu stabilisieren?
Idealerweise sollte man sich auf europäischer Ebene anschauen, welche Produkte bevorratet werden sollten. Denn länderübergreifender Lieferengpässe können nur gemeinsam überwunden werden. Statt einer nationalen Bevorratung wäre daher aus meiner Sicht eine auf europäischer Ebene abgestimmte Lösung zu bevorzugen.
In der Zwischenzeit darf eine Bevorratung auf nationaler Ebene nicht auf Kosten der Pharmaunternehmen gehen. Das Gesundheitsministerium ist gefragt, nicht nur sicherzustellen, dass die nötigen Produkte auf Lager sind, sondern auch zu garantieren, dass dafür die notwendige Finanzierung zur Verfügung steht.
➤ Mehr lesen: Lieferkette statt Corona: Top-Forscher mit neuer Aufgabe
Also ist es kein Thema, diese Produktionsketten nach Österreich oder Europa zu verlegen?
Das ist aktuell Wunschdenken. Dazu bräuchte es eine langfristige Strategie und ein wettbewerbsfähiges Marktumfeld, das es pharmazeutischen Unternehmen ermöglicht, in Österreich oder Europa weiter zu produzieren oder neue Produktionsstätten aufzubauen. Wichtig sind hier faire Preise, die es Unternehmen erlauben, eine entsprechende Risikovorsorge zu treffen und zur Versorgungssicherheit beizutragen. Beim aktuellen Preisniveau ist das kaum möglich.
➤ Mehr lesen: Jeder Sechste bereits von Medikamentenengpass betroffen
Dass es anders geht, sehen wir bei Biopharmazeutika. Da werden 80 Prozent der Produkte in Europa hergestellt. Es handelt sich dabei um sehr komplex aufgebaute Proteine, deren Produktion das Wissen und Know-how, hoch qualifizierte Mitarbeiter und eine entsprechende Infrastruktur benötigt. Boehringer Ingelheim hat erst kürzlich eine neue Produktionsanlage hier in Wien eröffnet. Biopharmazeutika werden zur Behandlung von schweren und lebensbedrohlichen Erkrankungen, wie z. B. bei Krebs, Rheuma und Multipler Sklerose, eingesetzt und haben auch ein entsprechendes Preisniveau.
Hingegen werden chemisch hergestellte, patentfreie Medikamente, zu 80 Prozent in Niedriglohnländern wie China oder Indien produziert. Dass diese Produktion zurück nach Österreich oder Europa kommt, halte ich für unrealistisch. Da bräuchte es eine langfristige, europäische Strategie, um die Industrie zurückzuholen – und die sehe ich nicht.
Kommentare