Jahrelange Impfmüdigkeit bei Masern: "Bekommen jetzt die Rechnung präsentiert"
Es beginnt mit Fieber, Husten, Schnupfen. Gefolgt von stecknadelkopfgroßen, weißen Flecken auf der Mundschleimhaut. Nach rund drei bis vier Tagen tritt dann der für Masern typische kleinfleckige, leicht erhabene, teils zusammenlaufende Ausschlag am Körper auf.
In Österreich litt und leidet seit Jahresbeginn eine Rekordzahl an Menschen an diesen Symptomen. Woran liegt es, dass die Masernzahlen heuer derart explodieren?
Österreich bei Maserninfektionen im Spitzenfeld
501 Masernerkrankungen (Stand Dienstag) wurden seit Jahresbeginn von den heimischen Behörden registriert. Rund ein Fünftel der Betroffenen musste laut Österreichischer Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) im Spital behandelt werden, vier davon auf der Intensivstation. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2023 wurden 186 Fälle erfasst.
Die Zahlen mögen für Laien wenig bedrohlich klingen. Fachleute stimmen sie besorgt. Virologin Judith Aberle sprach vergangene Woche auf X von der "bei Weitem höchsten Zahl seit 20 Jahren". Das bestätigt ihr Kollege Lukas Weseslindtner, der das Referenzlabor für Masern-Mumps-Röteln-Viren am Zentrum für Virologie an der MedUni Wien leitet. "Österreich ist leider gerade Spitzenreiter, wenn es um Maserninfektionen geht. Und das nicht erst seit diesem Jahr", sagt Weseslindtner, der Proben von Masernverdachtsfällen untersucht.
Jede Woche neue Fälle
Schon 2023 sei Österreich nach Rumänien in Europa das Land mit den meisten Masernfällen gewesen. "Dieses Jahr fliegt uns die Sache völlig um die Ohren", beschreibt der Spezialist die Lage. Aktuell werde jede Woche ein neuer Masernfall gemeldet. Statt lokaler Ausbrüche durch einzeln importierte Viren beobachte man nun ein kontinuierliches Infektionsgeschehen. "Das Virus zirkuliert inzwischen in der Bevölkerung, jeder kann potenziell damit in Kontakt kommen."
Bereits zu Beginn des Jahres sei es in einzelnen Bundesländern nicht mehr möglich gewesen, den Patient 0 eines Ausbruches – den Ausgangspunkt des Ansteckungsherdes – zu identifizieren.
Weil Österreich über ein sehr gutes Überwachungssystem verfügt – mehr als 80 Prozent der Virusproben gelangen an die MedUni und werden dort typisiert –, weiß man, dass "nicht nur ein Stamm zirkuliert, sondern laufend neue genetische Virusvarianten aus verschiedenen osteuropäischen Ländern (z. B. Rumänien) in Umlauf kommen".
Dass der Erreger durch Reisende ins Land gelangt, ist das eine. Dass er hier auf eine Bevölkerung trifft, die nicht ausreichend geschützt ist, das andere. Gegen Masern steht eine hochwirksame, sichere Impfung zur Verfügung (siehe Infobox weiter unten). In Österreich wird die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Ziel ausgegebene Durchimpfungsrate von 95 Prozent (vollständige Immunisierung mit zwei Teilimpfungen, Anm.) aber nicht erreicht.
Das Masernvirus gehört zu den ansteckendsten Erregern überhaupt. Ein Infizierter kann bis zu 18 weitere Personen infizieren. Das Virus befällt den ganzen Körper, kann viele Organe in Mitleidenschaft ziehen und bis ins Gehirn wandern. Das Virus schädigt zudem das Immunsystem nachhaltig. Auch die Komplikationsraten sind hoch. Zwischen 20 und 30 Prozent der Erkrankten müssen ins Spital.
Die Kombinationsimpfung gegen Masern-Mumps-Röteln (MMR) ist im kostenfreien Impfprogramm enthalten. Es handelt sich um eine Lebendimpfung. Es werden zwei MMR-Impfungen ab dem vollendeten 9. Lebensmonat empfohlen. Bei Erstimpfung im 1. Lebensjahr (ab dem vollendeten 9. Lebensmonat) soll die 2. Impfung nach drei Monaten verabreicht werden. Bei Erstimpfung nach dem 1. Lebensjahr erfolgt die 2. Impfung frühestmöglich, mit einem Mindestabstand von vier Wochen. Fehlende MMR-Impfungen können und sollten in jedem Lebensalter nachgeholt werden.
Über Jahrzehnte kultivierte Impflücken
Immer wieder verweisen Fachleute darauf, dass die Corona-Pandemie beträchtliche Impflücken aufgerissen habe. Virusinfektionen wie Masern hätten dadurch leichtes Spiel. Weseslindtner widerspricht. Vielmehr würde eine aktuelle Studie an der MedUni offenlegen, dass es schon seit Jahrzehnten Immunitätslücken gebe, "die nie geschlossen wurden". Er präzisiert: "Es ist nicht so, dass nur die Pandemie zu einem Rückgang der Impfmoral geführt hat, sie war davor schon nicht ausreichend."
Weseslindtner untersuchte mit seinem Team über 50.000 Blutproben, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte an der MedUni auf Masernvirus-Antikörper getestet wurden. In den Jahrgängen, die nach der Ära der weitverbreiten Wildviruszirkulation geboren wurden (also nach den späten Siebzigerjahren), wurde in einem beträchtlichen Teil der Proben eine unzureichende Antikörpermenge festgestellt. Weseslindtner: "Das sind mit hoher Wahrscheinlichkeit Personen, die keine oder nur eine von zwei nötigen Teilimpfungen erhalten haben und somit nie ganz geschützt waren."
Bei Älteren, die die Masern noch auf natürlichem Weg durchgemacht haben, ist das komplett anders. Eine überstandene Infektion hinterlässt nämlich lebenslange Immunität.
Nach Einführung der Impfung in den Siebzigerjahren wurden Masernfälle immer seltener. Der Großteil der Bevölkerung wurde nicht mehr durch die – potenziell hochgefährliche – Infektion, sondern die Impfung immun. Die Zahl Masernfälle nahm ab, die Masern verloren ihren Schrecken, auf Impfungen wurde vermehrt vergessen. Das lasse sich laut Weseslindtner gut aus den Daten ablesen. In den Jahrgängen ab 1980 verfügen rund zehn Prozent über keine oder unzureichende Antikörper, ab den Neunzigern liegt der Wert sogar bei 15 Prozent.
Defizite gibt es aber auch bei den Kleinsten: Laut dem vom Gesundheitsministerium herausgegebenen "Kurzbericht Masern 2023" waren im letzten Jahr nur 78 Prozent der Zweijährigen vollständig geimpft, bei den Vierjährigen waren es 80 Prozent.
Die wiederaufkommende Reisetätigkeit nach der Pandemie trifft also auf präexistierende Impflücken in jungen und mittelalten Generationen. "Das ermöglicht es dem Virus, sich derart zu verbreiten." Man bekomme "die Rechnung für die Impfmüdigkeit der vergangenen Jahrzehnte präsentiert". Mit weiteren Masernfällen sei jedenfalls zu rechnen, prognostiziert Weseslindtner.
Gelingt es nicht, die Durchimpfungsraten rasch zu erhöhen, "wird der Trend, der sich aktuell zeigt, das neue Normal werden", ist Weseslindtner überzeugt. "Wenn wir so weitermachen, werden die Masern wieder eine gängige Infektionskrankheit werden, obwohl sie in Österreich schon mehr als gut unter Kontrolle waren."
Dass alte impfpräventable Erkrankungen am Erstarken seien, werde auch am Beispiel Keuchhusten deutlich.
"Es ist jeder Einzelne gefordert"
Weseslindtner appelliert an die Bevölkerung: "Es ist jeder Einzelne gefordert, die Lage zum Anlass zu nehmen, seinen Impfpass zu checken." Scheint nur eine Dosis oder gar keine auf, sollte man die fehlende(n) Impfung(en) rasch nachholen. "Am besten gleich beim nächsten Arztbesuch, die Impfung ist kostenlos." Ist der Impfpass nicht mehr auffindbar, kann per Bluttest eine Antikörperbestimmung erfolgen.
Immer wieder wird vor Ärztinnen und Ärzten auch eine Masern-Impfpflicht, wie es sie etwa in Deutschland oder Frankreich gibt, gefordert. Virologe Weseslindtner fordert vonseiten der Politik jedenfalls engagierteres Vorgehen bei Impfkampagnen: "Es ist wissenschaftliches Faktum, dass das Virus nicht weggehen wird, wenn wir nicht viel aktiver die Impflücken schließen."
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