Kostenloses Kinderimpfprogramm: Warum Experten alarmiert sind
Die Regelung in der Kinderarztpraxis von Peter Voitl und seinen Partnern in Wien-Donaustadt ist klar: „Ungeimpfte Kinder stufen wir als potenziell infektiös ein, auch wenn sie keine Symptome haben. Sie müssen neben den Hustenden und Schnupfenden sitzen. Damit wollen wir die Gesunden schützen. Wenn Säuglinge da sind, bekommen sie gar keinen Termin. “
Selbstverständlich habe das gesamte Personal alle empfohlenen Impfungen: „Stellen Sie sich vor: Einer von uns brütet eine Influenza aus, infiziert einen Säugling und gefährdet damit dessen Leben – das ist ein unerträglicher Gedanke.“ Aktuelle Zahlen, wie es mit dem Impfschutz der Kinder tatsächlich aussieht, präsentierte jetzt die Leiterin der Abteilung für Impfwesen im Gesundheitsministerium, Maria Paulke-Korinek, bei einem Seminar des Verbandes der Österreichischen Impfstoffhersteller.
Kein Schutz vor Polio ...
Bei den Zwei- bis Vierjährigen haben 16 % (42.000) keinen ausreichenden Schutz vor Kinderlähmung, Keuchhusten (steigende Infektionszahlen) und Tetanus (Wundstarrkrampf): „Jeder, der kleine Kinder hat, weiß, wie oft sie auf die Knie fallen. Wir müssen die Durchimpfungsraten unbedingt steigern.“
27.000 der 5- bis 9-jährigen Kinder und 9100 der 10- bis 16-Jährigen haben gar keinen Schutz vor diesen Krankheiten: „Das sind alarmierende Zahlen.“
... und keiner vor Masern
Bei den 2- bis 5-Jährigen haben nur 82 Prozent eine zweite Masern-Mumps-Röteln-Impfung – das bedeutet, dass 47.000 Kindern in dieser Altersgruppe diese Impfung fehlt. Es müssten aber 95 Prozent der Kinder geimpft sein, um Krankheitsausbrüche verhindern zu können. Die Folge: „2019 traten 22 Masernfälle bei Kindern in der Altersgruppe von 1 bis 4 Jahren und sechs Fälle bei den unter Einjährigen auf“, sagt Daniela Schmid von der Ages (Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit).
Im Volksschulalter fehlt immerhin noch 27.000 Kindern die zweite Masern-Mumps-Röteln-Impfung. Fazit: 2019 wurden 151 Masernfälle gemeldet, mehr als doppelt so viele wie 2018 (77). „Und Masern sind keine harmlose Kinderkrankheit. Jedes siebente Kind hat irgendeine Form der Komplikation“ , betont Kinderarzt Voitl.
„Die kostenfreien Impfungen schützen entweder vor sehr häufigen, oder seltenen, aber sehr schwer verlaufenden Erkrankungen“, betont die Ministeriumsexpertin. Und: „Auch Impfungen, die nicht kostenfrei, aber im Impfplan empfohlen sind, sind wichtig.“ Aber es könne nicht alles finanziert werden.
Welchen Effekt die Einführung eines Impfstoffes haben kann, zeigt sich bei jenem gegen Rotaviren, die bei Kleinkindern schwere Durchfälle auslösen können: „Vor der Einführung des Impfstoffes musste eines von 60 Kindern in ein Spital gebracht werden, weil die Erkrankung so schwer verlaufen ist. Jetzt sind solche schweren Erkrankungen viel seltener.“ Sogar spezielle, für diese Kinder vorgesehene Stationen auf Kinderabteilungen konnten geschlossen werden – es gibt keinen Bedarf mehr.
Schutz vor Krebs
Eine besonders schlecht angenommene Impfung ist jene gegen Humane Papillomaviren (HPV). Jährlich führen diese zu 400 Erkrankungen an Gebärmutterhalskrebs in Österreich. „Österreich war das erste Land der Welt, das sie für Mädchen und Buben finanziert hat“, sagt der Gynäkologe Elmar Joura von der MedUni / AKH Wien. Sie wird idealerweise in der vierten Volksschulklasse durchgeführt. „Die Durchimpfungsrate bei 9- bis 10-Jährigen liegt aber nur bei 62 Prozent.“ Und das, obwohl Daten aus Schweden bereits zeigen, dass bei frühzeitig Geimpften die Häufigkeit von Gebärmutterhalskrebs um 85 Prozent, bei später Geimpften um 50 Prozent zurückgeht.
„In England ist die Durchimpfungsrate wesentlich besser als in Österreich“, sagt Joura. Einer der Gründe: In Österreich ist für eine Schulimpfung eine schriftliche Zustimmung der Eltern notwendig. In Großbritannien ist es umgekehrt: Eltern müssen sich dort schriftlich gegen die Impfung entscheiden. Tun sie das nicht, wird das Kind geimpft.
"Impfgespräch vor Schule und Kindergarten"
Nachgefragt. Ursula Wiedermann-Schmidt leitet das Institut für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin der MedUni Wien.
KURIER: Warum gibt es immer noch so große Impflücken in Österreich?
Ursula Wiedermann-Schmidt: Grundsätzlich haben wir einen sehr guten Impfplan. Aber es gibt organisatorische Hürden – etwa bei den Schulimpfungen. Nicht alle Schulärzte impfen und fühlen sich dafür zuständig, die genauen Bestimmungen variieren von Bundesland zu Bundesland, da gibt es Umsetzungsprobleme. Das alles führt dazu, dass sich Auffrischungsimpfungen nach hinten verschieben oder dann ganz darauf vergessen wird. Und natürlich muss auch die Information an die Eltern verbessert werden.
Impfgegner wird das aber nicht überzeugen.
Nein, aber diese machen nur maximal fünf Prozent der Bevölkerung aus. Viel größer ist der Teil der Impfskeptiker, die sich bei einem Kontakt mit Ärzten oder Impfstellen nicht gut beraten gefühlt haben. Die sind dann gefährdet, im Internet auf gut organisierte Impfgegnerplattformen zu stoßen.
Sie sind Mitglied des Obersten Sanitätsrates, eines wichtigen Beratungsgremiums des Gesundheitsministeriums. Empfiehlt dieser eine Impfpflicht?
Was das Gesundheitspersonal betrifft: Ja. Hier sollten aus unserer Sicht die empfohlenen Impfungen verpflichtend sein – nicht nur bei Neuanstellungen, sondern auch bei allen schon länger Beschäftigen. Hier sehe ich auch bereits positive Signale des Ministeriums. Eine weitere Forderung des Sanitätsrates ist, dass künftig vor Eintritt eines Kindes in den Kindergarten bzw. in die Volksschule ein verpflichtendes ärztliches Impfgespräch mit den Eltern durchgeführt wird. Dies sollte in den Mutter-Kind-Pass aufgenommen werden. Damit könnten wir erreichen, dass alle vergessenen Erstimpfungen und Auffrischungen nachgeholt und Lücken geschlossen werden.
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