Kommt jetzt die vierte Welle? Das sagen Österreichs Experten
Sind die steigenden Zahlen bereits der Beginn der vierten Welle? Das wagen auch Experten derzeit nicht mit Sicherheit zu sagen. Obwohl in Deutschland das renommierte Robert-Koch-Institut diese für unser Nachbarland bereits konstatierte. In Österreich hatten zuletzt Rückkehrer von einem Festival in Kroatien mit bisher mehr als 200 Infizierten für einen starken Anstieg gesorgt.
Dazu kommt die offenbar leichter übertragbare und infektiösere Delta-Variante. Allerdings betonen viele Experten, dass eine neuerliche Welle aufgrund der fortgeschrittenen Impfungen unter anderen Voraussetzungen auftrete, als frühere. Dass die Hospitalisierungen – derzeit – nicht mit den Infektionszahlen ansteigen, zeigen die aktuellen Spitalsbelegungen aufgrund von Covid-19.
Vier renommierte Experten geben ihre Einschätzung zur Situation und Empfehlungen für das weitere Vorgehen ab.
„Man muss die Kirche jetzt im Dorf lassen“, betont Herwig Kollaritsch. Im Moment will der Infektiologe und Experte des Covid-Beraterstabes des Obersten Sanitätsrates der Regierung noch keine vierte Welle dramatisch auf Österreich zurollen sehen. In Europa zeige sich momentan ein sehr heterogenes Infektionsgeschehen, erklärt Kollaritsch. „Nachdem die Zahlen quasi allerorts wieder steigen, sehen wir in Großbritannien, Spanien oder den Niederlanden schon wieder eine Abnahme der Ansteckungen. Und niemand weiß momentan so recht, warum das passiert.“
Wichtig ist dem Professor auch folgende Feststellung: „Bei uns zeigt die Kurve noch nach oben, aber – und das muss man betonen – in mäßigem Ausmaß. Ich finde nicht, dass sich die momentane Situation als explosionsartiges Ansteigen beschreiben lässt.“
Ganz ähnlich sieht das Francesco Cardona. Der Epidemiologe und Neonatologe an der MedUni Wien schließt zwar nicht aus, dass die vierte Welle Österreich schon erreicht hat, eine ernsthafte Gefährdung der Bevölkerung möchte er daraus aber noch nicht ableiten.
„Es ist durchaus denkbar“, so Cardona, „dass wir die vierte Welle erreicht haben. Allerdings sind Expertinnen und Experten inzwischen vorsichtig mit Prognosen geworden. Grundsätzlich hat sich in Österreich der Anstieg der Zahlen in den vergangenen Tagen schon abgezeichnet.“
Erklärungsmodelle
Der Trend sei an den Wachstumskurven in den vergangenen zwei Wochen schon erkennbar gewesen. Erklärungsmodelle für steigende Zahlen gebe es neben den Reiserückkehrern und der Nacht-Gastronomie viele. „Plausibel erscheint zum derzeitigen Zeitpunkt auch, dass die Vorsicht der Menschen einfach abgenommen hat. Womöglich, weil sie Pandemie-müde sind.“
Hans-Peter Hutter, Umweltmediziner der MedUni Wien, kritisiert erneut Fehler in der politischen Kommunikation: Der „Tag der Freiheit“, an dem alles wieder normal ist, wie es in England jüngst hieß, habe die Bevölkerung sehr gefreut. „Das Virus aber umso mehr.“ Die vierte Welle sieht Hutter auch schon in Österreich, allerdings relativiert der leidenschaftliche Surfer: „Es ist – wenn ich den Vergleich aus dem Surfermilieu ziehe – momentan eine Mittel- und keine Megawelle, wie sie vor Hawaii auftritt.“ Dennoch darf man diese Welle nicht unterschätzen. „Es ist jedenfalls ein Signal, das man ernst nehmen muss.“
Ähnlich argumentiert der Statistiker Erich Neuwirth. Eine weitere Welle sei nicht auszuschließen. Für die Entwicklung hält er das Verhalten der Menschen ausschlaggebend. Dabei geht es nicht um Events wie das Festival in Kroatien, sondern auch um das Danach. Wie schon im Vorjahr sei wichtig: „Solange Ausbrüche lokal bleiben, sind sie begrenzbar.“ Dem Experten gibt mit dem Ansteigen der Infektionen (vor allem unter Ungeimpften) eines zu bedenken: „Das schafft eine Umgebung, die es dem Virus ermöglicht, zu mutieren.“
KURIER: Befinden wir uns in Österreich nun in der vierten Welle?
Herwig Kollaritsch: Mit einer solchen Einschätzung wäre ich momentan vorsichtig. In Europa zeigt nicht momentan ein sehr heterogenes Bild, was das Infektionsgeschehen betrifft. Nachdem die Zahlen quasi allerorts wieder steigen, sehen wir in Großbritannien, Spanien oder den Niederlanden schon wieder eine Abnahme der Ansteckungen. Und niemand weiß momentan so recht, warum das passiert. Bei uns zeigt die Kurve noch nach oben, aber – und das muss man betonen – in mäßigem Ausmaß. Ich finde nicht, dass sich die momentane Situation als explosionsartiges Ansteigen beschreiben lässt. Es ist wahnsinnig schwierig, hier zuverlässige Prognosen zu treffen, weil wir vieles, was das Virus und seine Ausbreitung betrifft nicht vorhersagen können. Cluster, wie jener aus Kroatien bei Festivalheimkehrern sind nicht vorhersehbar, aber schlagen in der Fallstatistik natürlich deutlich auf. Man kann also nicht sagen, wie sich die Infektionslage in den kommenden Tagen und Wochen genau entwickeln wird. Was man sich genau ansehen wird müssen, ist, was hinter den ansteigenden Zahlen steht.
Wird eine vierte Welle kurz und krass sein wie zum Beispiel in den Niederlanden oder England?
Das kann man beim besten Willen nicht prognostizieren, weil es noch keine eindeutigen Erklärungen für das Absinken der Zahlen dort gibt. Klar ist, dass zumindest in Großbritannien keine Maßnahmen gesetzt wurden, die sich sofort in einem Abfall manifestieren würden. Und auch in Spanien und den Niederlanden, wo man sehr wohl verschärft hat, ist die Zeitspanne für einen Effekt auf die Zahlen zu kurz.
Was braucht es jetzt an Maßnahmen angesichts von 500 Neuinfektionen?
Man muss die Kirche jetzt im Dorf lassen. Wir können aktuell nicht abschätzen, welche Maßnahmen im Frühherbst notwendig sein werden. Herbst deswegen, weil da natürlich die kritischen Schulöffnungen anstehen und der saisonale Effekt auf die Virusausbreitung stetig abnimmt. Bis dahin ist noch ein Monat Zeit – inzwischen werden hoffentlich viele weitere Impf-Dosen verabreicht, denn jeder Prozentpunkt an Geimpften schwächt die Ausbreitungsdynamik einer weiteren Welle. Anfang September wird die Zeit sein, um Bilanz zu ziehen: Wie weit sind die Vorbereitungen für intensives Testen an den Schulen gediehen? Wie sieht es mit der Durchimpfungsrate bei den Pädagogen und den Schülern aus? Und wo stehen wir jetzt mit den Neuinfektionen? Auf Basis dieser Parameter können das Entscheidungen über Maßnahmen getroffen werden. Klar ist: Wenn das Infektionsgeschehen das Contact Tracing überholt, muss man sich überlegen, an welchen Schrauben man dreht, um die Lage wieder in den Griff zu bekommen und die Ausbreitung des Virus einzudämmen.
Welche Rolle spielt die Öffnung der Nacht-Gastronomie im aktuellen Infektionsgeschehen konkret?
Natürlich spielt die Öffnung der Nach-Gastronomie eine gewisse Rolle. Das ist aber ein Effekt, der kalkulierbar war. Bis zum Herbst können theoretisch noch viele andere Faktoren hinzukommen, die die Ansteckungszahlen erhöhen können. Etwa die bereits angesprochene Schule.
Welche Rolle spielen Reise-Rückkehrer?
Wir hatten schon zuletzt einen hohen Anteil an Infektionen, die auf Reise-Rückkehrer zurückgehen. Das ist ganz logisch, immerhin sind die Zahlen ja auch in anderen Ländern bzw. Urlaubsdestinationen im Steigen begriffen. Was das langfristig für einen Effekt auf das Infektionsgeschehen hierzulande haben wird, kann man jetzt noch nicht abschätzen, denn hier besteht sicher eine hohe Dunkelziffer an nicht erfassten Infektionen, die zu Clustern oder Superspreading-Events führen können.
KURIER: Befinden wir uns in Österreich nun in der vierten Welle?
Francesco Cardona: Es ist durchaus denkbar, dass wir die vierte Welle erreicht haben. Allerdings sind Expertinnen und Experten inzwischen vorsichtig mit Prognosen geworden. Grundsätzlich hat sich in Österreich der Anstieg der Zahlen in den vergangenen Tagen schon abgezeichnet. Der Trend ist an den Wachstumskurven in den letzten zwei Wochen schon erkennbar gewesen. Erklärungsmodelle für steigende Zahlen gibt es immer viele: Reiserückkehrer, Nach-Gastronomie – plausibel erscheint zum derzeitigen Zeitpunkt auch, dass die Vorsicht der Menschen einfach abgenommen hat. Womöglich weil sie Pandemie-müde sind.
Wird eine vierte Welle kurz und krass sein wie zum Beispiel in den Niederlanden oder England?
Das ist schwierig zu sagen. Die Sorge ist natürlich, dass wenn keine verschärfenden Maßnahmen gesetzt werden und sich das alltägliche Verhalten nicht ändert, die Zahlen weiter steigen könnten. Die grassierende Delta-Variante ist wesentlich ansteckender als ihre Vorgänger, die Infektionskurve wird allein deswegen steiler verlaufen.
Was braucht es jetzt an Maßnahmen angesichts von 500 Neuinfektionen?
Es braucht die Regeln, die schon zu Pandemie-Beginn gegolten haben: Wenn viele Menschen auf engem Raum intensiven Kontakt haben, wirkt sich das auf die Infektionszahlen aus. Auch deshalb, weil Geimpfte das Virus theoretisch weitergeben können. Allerdings steigt im Hintergrund die Durchimpfungsrate – je mehr Menschen einen Schutz gegen schwere Covid-Verläufe haben, desto weniger bedrohlich wird die Situation.
Welche Rolle spielt die Öffnung der Nacht-Gastronomie im aktuellen Infektionsgeschehen konkret?
Obwohl bei Veranstaltungen in geschlossenen Räumen die 3-G-Regel gilt, kann es dort zu Ansteckungen kommen. Bei Antigen- wie auch PCR-Tests gibt es ein gewisses Zeitfenster, in dem Infektionen unentdeckt bleiben – der Getestete sich aber in Sicherheit wiegt und mit gutem Gewissen unter die Menschen mischt. Je mehr Virusaktivität in der Gesamtbevölkerung herrscht, desto gefährlicher werden Orte wie Discos auch wieder als Übertragungsorte.
Welche Rolle spielen Reise-Rückkehrer?
Ein Drittel aller Neuinfektionen gingen jüngst auf Reise-Rückkehrer zurück. Das ist nachvollziehbar – in einigen beliebten Urlaubsländern gibt es hohe Inzidenzen, damit steigt auch das Risiko einer Ansteckung.
KURIER: Befinden wir uns in Österreich nun in der vierten Welle?
Hans-Peter Hutter: Es ist derzeit ein moderater Anstieg zu verzeichnen. Immerhin auf das Fünffache im Vergleich zum Monatsbeginn. Trotzdem ist die Inzidenz noch niedrig. Da eine Welle immer mit einem Anstieg aus einem Wellental startet, kann dies als vierte Welle bezeichnet werden. Allerdings ist – wenn ich den Vergleich aus dem Surfermilieu ziehe – momentan eine Mittelwelle und keine Megawelle, wie sie vor Hawaii auftritt. Dennoch darf man keine Welle unterschätzen – das gilt auch für die Wellen einer Epidemie. Es ist jedenfalls ein Signal, das man ernst nehmen muss.
Wird sie kurz und krass sein wie zum Beispiel in den Niederlanden?
In den Niederlanden gibt es immer noch fast 4000 Fälle pro Tag. Von kurz kann daher nicht die Rede sein. Man wird erst sehen, wie lange es dauert, bis die Inzidenz auf Werte um die 600 wie vor der Welle sinkt. Ich gehe jedoch nicht davon aus, dass es sich bei uns so krass abspielen wird. Immerhin haben wir im Vergleich zu den Niederlanden oder auch zu Großbritannien (wo es derzeit trotz hoher Impfrate immer noch fast 26.000 Fälle pro Tag gibt), nicht alle Begleitmaßnahmen auf einen Schlag fallen gelassen – Sichtwort 3-G-Regel. Der „Tag der Freiheit“, an dem alles wieder normal ist, wie es in England hieß, hat die Bevölkerung gefreut, das Virus aber umso mehr.
Was braucht es jetzt angesichts 500 Neuinfektionen?
Nur auf das Impfen hinzuweisen ist zu wenig. Kommunikation, die weder Panik noch Sorglosigkeit auslöst, ist nun essentiell. Die Bevölkerung muss leider wieder zurückgeholt werden. Die Euphorie „alles ist erlaubt, was gefällt“ war voreilig und ist nun wenig hilfreich, wo nun wieder Ernüchterung eintritt. Das Hin und Her brachte Verwirrung – viele kennen sich nicht mehr aus. Stichwort „Was gilt eigentlich jetzt wirklich?“. Außerdem wird das Wiedereinführen selbst von kleinen Maßnahmen als mühsam erlebt. Automatismen sollten eben nicht unterbrochen werden. Man hat aus den Fehlern des letzten Jahres nichts gelernt.
Welche Rolle spielt die Öffnung der Nacht-Gastro konkret?
Im Grunde steckt darin die Frage, wie man mit der Jugend umgeht. Es ist zweifellos die Nacht-Gastro ein Setting, wo es bei halbherziger Umsetzung von Maßnahmen, unter andere, der 2-G-Regel, vermehrt zu Ansteckungen kommt. Und zwar in einer Altersgruppe, von der dann zeitverzögert Ältere infiziert werden. Daher ist es unverzichtbar, niederschwellige Angebote zum Testen vor allem im ländlichen Bereich bereitzustellen und effiziente Kontrollen durchzuführen. Damit sollen Clubs etc. offen bleiben können – und schließlich auch unkontrolliertes Feiern im privaten Rahmen eingebremst werden.
Welche Rolle spielen Reise-Rückkehrer?
Bereits im vergangenen Jahr war klar, dass die Reisemobilität entscheidend zu der zweiten Welle beigetragen hat, welche letztlich zu den vielen Todesfällen und den dramatische Situation in den Spitalern geführt hat. Daher ist es klar, dass die Reiserückkehr ohne Testen oder anderen Maßnahmen auch heuer wieder ein Problem verursachen wird. Es wird eine Lösung geben müssen, die Einschleppungen verhindert, aber gelichzeitig organisatorisch zu schaffen ist. Zugegeben ist das schwer zu stemmen. Folglich gilt auch hier der Aufruf: Dass man sich auch im Urlaub nicht völlig „enthirnt“ verhält.
KURIER: Befinden wir uns in Österreich nun in der vierten Welle?
Erich Neuwirth: Es ist zu früh das zu sagen. Aber es lässt sich nicht ausschließen. Das Muster ist jedenfalls so, wie wir es vor einem Jahr bereits gesehen haben: Die Zahlen gehen hinauf, dann bleiben sie eine Zeitlang konstant, und gehen sie wieder hinauf.
Wird sie kurz und krass sein wie z. B. in den Niederlanden oder England?
Das wäre eine Hoffnung. Es hängt aber damit zusammen, wie sich die Menschen verhalten. Nehmen wir nur Discos oder das Festival in Kroatien. Da geht es nicht nur um die Events selbst, sondern die Viren werden auch danach weiter verbreitet.
Was braucht es jetzt an Maßnahmen angesichts von 500 Neuinfektionen?
So lange Ausbrüche lokal sind, sind sie begrenzbar. Ich würde mir wünschen, dass die Fallzahlen pro Gemeinde publiziert werden. Derzeit werden zwar die Impfzahlen pro Gemeinde ausgewiesen, aber nicht die Fallzahlen. Gemeinden sind die kleinsten Einheiten, die es gibt und sie sind gut kontrollierbar. Dann sieht man anhand der Daten, wo es Problemzonen gibt. Fallzahlen-Monitoring gibt es aber derzeit nur für Bezirk. Das ist schon wieder eine größere Einheit, die nicht so gut überschaubar ist.
Weiters halte ich das Tragen von FFP-2-Masken für eine gute Maßnahme. Ich halte das auch selbst so. Vor allem in Innenräumen, wo sich auch mir unbekannte Menschen aufhalten. Ich verstehe nicht, warum das Tragen von Masken von vielen als Einschränkung der persönlichen Freiheit gesehen wird. Es ist unangenehm, aber zumutbar.
Welche Rolle spielt die Öffnung der Nacht-Gastronomie im aktuellen Infektionsgeschehen konkret?
Um hier Genaueres zu sagen, bräuchte man mehr Daten. Aber natürlich ist eine Umgebung, in sich viele zum Teil noch ungeimpfte Menschen ohne Abstand und Maske aufhalten, einem Infektionsgeschehen eher förderlich. Den Eintritt auf Geimpfte zu beschränken, hielte ich als Person für vernünftig. Allerdings ist eine generelle Impfpflicht vor allem ein juristisches Problem.
Welche Rolle spielen Reise-Rückkehrer?
Die Frage ist, aus welcher Umgebung sie zurückkommen. Wenn es ein Festival ist, das wie jenes in Kroatien damit wirbt, dass es keinerlei Einschränkungen gibt, sollte man diese Rückkehrer im Auge haben. Bei derartigen Gegebenheiten schafft man zudem eine Umgebung, die dem Virus nicht nur die Ausbreitung ermöglicht, sondern gibt ihm auch die Möglichkeit, zu mutieren. Eine andere Situation ergibt sich etwa für eine Familie in einem Ferienappartement in einem kleinen Bergdorf.
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