Sexualisierte Gewalt ist eine Gewaltform, die meist keine körperlichen Spuren hinterlässt. Dennoch zeigen Kinder ihren Schmerz: Man sieht ihn allerdings nur, wenn man genau hinsieht und weiß, worauf man achten sollte. Laut Schätzungen ist in Österreich im Schnitt jedes fünfte Kind betroffen, Mädchen etwas häufiger als Buben. Der größte Feind dieser Kinder sind Menschen, die sich an ihnen vergehen. Aber auch eine Gesellschaft, die wegschaut. Der KURIER spricht mit Julia Schwarzenberg. Sie ist Fachärztin für Kinder– und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Universität Wien.
KURIER: Warum schaut die Gesellschaft bei sexuellem Missbrauch so gerne weg?
Julia Schwarzenberg: Das Thema ist nach wie vor sehr tabuisiert und unsere Gesellschaft begünstigt das Wegschauen. Sexueller Missbrauch wird manchmal auch als undenkbar eingestuft. Also wenn es "unvorstellbar" ist, dass beispielsweise ein Kollege Grenzen überschreitet, dann ist die Wahrnehmung diesbezüglich eingeschränkt.
Man will es einfach nicht wahrhaben.
Genau, darum ist es so wichtig, dass wir mehr über dieses Thema sprechen, dass präventive Maßnahmen an Institutionen wie Kindergärten oder Schulen erfolgen und wir Kindern und Jugendlichen mehr Gehör und Aufmerksamkeit schenken.
Wann sollten Eltern oder Pädagogen hellhörig werden?
Es gibt kein "Missbrauchssyndrom", das macht es schwierig, einen Vorfall zu erkennen. Viele Kinder zeigen aber Verhaltensänderungen. Vor allem kleinere Kinder beginnen manchmal, sich übermäßig stark mit dem eigenen Körper zu beschäftigen oder gebrauchen plötzlich eine sexualisierte Sprache. Auch körperliche Beschwerden wie Bauchschmerzen können ein Indiz sein. Andere Kinder werden aggressiv und leben negative Emotionen aus, weiters kann es beispielsweise zu Schlafstörungen und sozialem Rückzug kommen.
Wie kann man Kinder für die Gefahren von sexuellen Übergriffen sensibilisieren?
Zunächst ist es wichtig, dass man ein vertrauensvolles, stabiles Umfeld für das Kind schafft. Es ist wichtig, Kinder zu ermutigen, den eigenen Gefühlen zu vertrauen. Außerdem sollte man sie darin stärken, klar nein sagen zu dürfen, dass sie auch etwas anderes fühlen und wahrnehmen dürfen, als es ihnen von Erwachsenen gesagt wird.
Sexueller Missbrauch kommt sowohl bei Mädchen als auch bei Buben vor. Wie viele betroffene Kinder gibt es?
Legt man eine weite Definition von sexuellem Übergriff an, so spricht die Literatur davon, dass jede zweite bis vierte weibliche Jugendliche und jeder vierte bis achte Jugendliche sexuelle Übergriffe erlebt. Das beginnt in Form von sexualisierten Worten oder Blicken. Es geht um eine Überschreitung der persönlichen Integrität eines Menschen zur Befriedigung von verdeckten oder offenen sexuellen Bedürfnissen des Täters.
Kinder spüren das und dabei ist es irrelevant, ob es sich um offene oder um verdeckte Bedürfnisse handelt.
So ist es. Auch wenn kein Straftatbestand erfüllt ist, kann das etwas sein, worunter Kinder und Jugendliche leiden. Wie wird mit dem Kind beispielsweise gesprochen? Wie wird das Kind angesehen?
Werden bei Buben die Anzeichen von Missbrauch manchmal missinterpretiert?
Buben werden tendenziell weniger als potenzielle Opfer wahrgenommen. Das ist ein wichtiger Punkt. Traumatisierung kann sich auch in Form von gesteigerter Aggressivität oder einer Identifikation mit dem Täter äußern. Ein hoher Anteil an jugendlichen männlichen Straftätern ist selber hochgradig traumatisiert.
Gibt es auch Sexualstraftäterinnen?
Ja, es gibt auch in geringem Ausmaß Täterinnen, das Thema ist stark tabuisiert. Ich kann dazu Daten von Kollegen aus der Forensik nennen. Wenn wir von verurteiltem sexuellen Missbrauch sprechen, dann wird jährlich etwa eine Frau wegen eines solchen Delikts in Wien verurteilt. Aber das Thema ist wie gesagt stark tabuisiert, und es gibt viele Graubereiche, daher ist die Dunkelziffer höher.
Was sollten Institutionen wie etwa Kindergärten tun, um Vorfälle zu verhindern?
Es ist so wichtig, dass wir mehr über sexuelle Übergriffe sprechen, dass präventive Maßnahmen an Institutionen wie Kindergärten zu diesem Thema erfolgen und wir Kindern und Jugendlichen mehr Gehör und Aufmerksamkeit schenken. Das Thema ist nach wie vor tabu.
Egal, ob Mädchen oder Bub. Wie sollte man bei einem Verdachtsfall vorgehen?
Bei einem Verdacht sollte man unbedingt eine Kinderschutzeinrichtung aufsuchen und sich in solch einer professionell beraten lassen. Es gibt in jedem Bundesland mehrere Kinderschutzeinrichtungen.
Kommentare