Hochverarbeitete Lebensmittel: "Designt, um maximalen Suchtfaktor zu erzielen"

Pickerl mit E-Nummern auf einem Teller.
Lebensmittel. Von der Verpackung bis zur Textur: Hersteller kennen viele Tricks, um ihre Fertigprodukte für Konsumenten unwiderstehlich zu machen.

Was haben Frühstückscerealien und Kokain gemeinsam? Sie können im Menschen ein unstillbares Verlangen nach mehr wecken. Dass Nahrungsmittel richtiggehend süchtig machen können, belegen inzwischen auch Studien. 

In ihrem neuen Buch widmet sich Suchtmedizinerin Iris Zachenhofer zusammen mit ihrem Kollegen Shird Schindler dem Thema "Suchtfalle Lebensmittel" – und wie man ihr entkommt. Im KURIER-Interview klärt die Expertin über süchtigmachende Inhaltsstoffe und ihre Wirkungen auf.

KURIER: Wieso beschäftigen Sie sich als Suchtmedizinerin mit Lebensmitteln?

Iris Zachenhofer: Wir beobachten bei unseren Patienten immer wieder sogenannte "Suchtverschiebungen": Man macht einen Entzug von einer Substanz, und entwickelt dabei eine Abhängigkeit von einer anderen. Wir haben Patienten, die nach einem Alkoholentzug, 10, 15 oder 20 Kilogramm zugenommen haben, weil sie negative Gefühle nun mit Essen bekämpfen. In medizinischen Fachjournals erscheinen immer mehr Artikel, die hochverarbeitete Lebensmittel mit "klassischen" Drogen vergleichen, weil die Wirkung im Gehirn und das Suchtpotenzial ähnlich sind.

Brauchen Übergewichtige eine Suchttherapie?

Am wichtigsten ist, zu verstehen, welche biologischen Mechanismen in Gang sind und warum es uns so schwerfällt, uns vor dem Konsum hochverarbeiteter Lebensmittel zu schützen. Wir glauben, dass viele Menschen, die mit Übergewicht kämpfen und sich für schwach oder disziplinlos halten, in Wirklichkeit eine Sucht entwickelt haben und sich mit Strategien aus der Suchtmedizin leichter tun, Gewicht zu reduzieren.

Welche Lebensmittel sind eigentlich "hochverarbeitet"?

Sie enthalten zumindest eine industriell hergestellte Substanz, die wir üblicherweise nicht bei uns im Haushalt haben, etwa Zuckervarianten wie Maissirup, Dextrose, Invertzucker etc., chemisch behandelte Öle oder Proteine, Aromen, Geschmacksverstärker, Farbstoffe, Emulgatoren, Süßstoffe. Dazu gehören beispielsweise Fertiggerichte, Softdrinks, aromatisierte Joghurts, Frühstückscerealien, Pizza aus Fertigteig, industrieller Kuchen, verpacktes oder auch aufgebackenes Brot oder Margarine. Die einfachste Möglichkeit, sie zu erkennen, ist die Inhaltsangabe zu lesen und sich zu überlegen, ob man die Inhaltsstoffe zu Hause hat. Wenn nicht, sind es ziemlich sicher Zusatzstoffe.

Sind mehr Lebensmittel hochverarbeitet, als wir glauben?

Ja. Viele denken, sie ernähren sich gesund, wenn sie sich vegan oder vegetarisch ernähren. Eine Studie der MedUni Wien hat gezeigt, dass gerade Veganer viel mehr hochverarbeitete Lebensmittel konsumieren. Vegane Fischstäbchen zum Beispiel enthalten bis zu 40 Zusatzstoffe! Umgekehrt haben andere Lebensmittel einen schlechten Ruf, wie Tiefkühlgemüse oder Gemüse in Konservendosen, obwohl sie keine chemischen Zusatzstoffe enthalten und bedenkenlos gegessen werden können. Allgemein gilt: Vorsicht bei Lebensmitteln, die mit "high protein", "zuckerfrei" oder "kalorienarm" beworben werden. Sie sind meist voll mit Zusatz- und Süßstoffen.

Wo liegt das höchste Suchtpotenzial?

Besonders süchtig machend sind Lebensmittel, die zu 50 Prozent aus Kohlenhydraten und zu 35 Prozent aus Fett bestehen. Evolutionsbiologisch war es entscheidend, dass wir Fett und Kohlenhydrate bekommen, deshalb wird diese Kombination mit hoher Dopaminausschüttung belohnt. Milchschokoladen, Schokoladecremes, Kekse etc. werden speziell auf dieses Verhältnis hin designt, um den maximalen Suchtfaktor zu erzielen.

Hochverarbeitete Lebensmittel: "Designt, um maximalen Suchtfaktor zu erzielen"

In ihrem neuen Buch widmet sich Suchtmedizinerin Iris Zachenhofer zusammen mit ihrem Kollegen Shird Schindler dem Thema "Suchtfalle Lebensmittel".

Wie wirken sie im Körper?

Hochverarbeitete Substanzen enthalten kaum Ballaststoffe und wenig Flüssigkeit, um möglichst schnell vom Körper aufgenommen zu werden – und zu wirken. Dann gibt es viele andere Tricks, wie billige, unnatürlich intensive Aromen, die hohes Suchtpotenzial haben. Geforscht wird auch dazu, welche Konsistenz Lebensmittel haben müssen, damit wir möglichst viel davon essen. Besonders fies ist die Zugabe von künstlichen Süßstoffen, um den Appetit zu steigern. Ein Trick, der auch in der Schweinemast verwendet wird.

Ist das Suchtpotenzial von Nahrung tatsächlich mit dem von Kokain vergleichbar?

Diese Ergebnisse stammen aus Studien bei Ratten. Da zeigte sich, dass Ratten, die kokainabhängig gemacht wurden, lieber die Milchcremefülle von Schokokeksen zu sich nahmen als Kokain. Beim Menschen beobachten wir, dass erstaunlich viele bei bestimmten Lebensmitteln in ein süchtiges Verhalten kippen. Und sogar nervös werden, wenn das Lebensmittel nicht mehr verfügbar ist. Das Grundmuster jeder Sucht ist die Übertreffung der Erwartung, die einen hohen Dopaminausstoß erzeugt. Dies gilt letztlich für alles, egal ob es Kokain, Alkohol, Sex oder Lebensmittel sind.

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