Hans-Peter Hutter: "Öffnungen erfolgten ohne Rücksicht auf Verluste"
Tägliche Höchstwerte um die 50.000, von Dienstag auf Mittwoch sogar knapp 60.000 Neuinfektionen, aber gleichzeitige Lockerungen, ein Stillstand bei Impfungen und Contact Tracing, mit Ende März auch ein Auslaufen des bisher kostenlosen flächendeckenden Testsystems – für viele Expertinnen und Experten sind die aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus nicht mehr nachvollziehbar.
Der österreichische Virologe Florian Krammer, der in den USA forscht, machte seinem Ärger auf Twitter Luft: "Ich hab’s aufgegeben", war sein Kommentar zum österreichischen Coronamanagement. Auch Simulationsforscher Niki Popper zeigte sich kritisch und betonte kürzlich, dass eine Gesamtstrategie fehle.
Was heißt das für die nächsten Monate und was erwartet uns im Herbst? Der KURIER fragte bei Hans-Peter Hutter, Public-Health-Experte an der MedUni Wien nach.
KURIER: Wie beurteilen Sie die aktuell hohen Neuinfektionen?
Hans-Peter Hutter: Die hohen Zahlen überraschen mich eigentlich nicht. Das Problem war vorhersehbar, denn die Öffnungsschritte am 5. März erfolgten ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn schon so viele infektiös sind, basierend auf den deutlich infektiöseren Varianten BA.1 und BA.2, jegliche Barrieren abzuschaffen, die FFP2-Masken, die Kontrollen – dann sind Anstiege nicht verwunderlich. Wenn man alle Maßnahmen fallen lässt, sagt man damit indirekt, es ist erledigt. Und so ist es auch angekommen.
Die Öffnungen waren das falsche Signal?
Sie waren ein Signal zur falschen Zeit. Aus meiner Sicht war es nicht notwendig zu dieser Zeit zu öffnen. Ab Anfang Februar ging es bergab - gerade als das Abklingen nach dem Lockdown begonnen hat, fand zwei Wochen später die Regierungssitzung statt, wo unter anderem der 5. März bekanntgegeben wurde. Das war für mich schon damals klar, dass das zu früh kommt. Durch die Semesterferien hatten wir verstärkte Reiseaktivitäten, zusätzlich die infektiösere Variante BA.2. Außerdem ist das Impfen und das Contact Tracing zum Erliegen gekommen, weshalb es aus medizinischer Sicht schon damals nicht nachvollziehbar war, Öffnungen zu planen.
Die Menschen könnten ja trotzdem Maske tragen oder Kontakte reduzieren.
Man darf nicht vergessen, dass die Lockerungen auf fruchtbaren Boden fallen. Die Pandemie dauert nun schon zwei Jahre, für viele sind die Regeln im Alltag schon sehr nervig. Wenn dann die Regierung quasi per Verordnung sagt, ihr müsst das alles nicht mehr machen, werden die meisten sagen, die werden schon wissen, was sie tun. Es ist ungefähr so, wie wenn ich sage, es gibt kein Tempolimit auf der Autobahn mehr. Manche werden sage, ich fahre dennoch vorsichtig, andere sind der Meinung, endlich ist es soweit. Mit den Coronamaßnahmen ist es das gleiche. Mein Credo war immer, dass man soziale Kontakte und die Gesellschaft offenhält, insbesondere die Schulen und die Kinderbetreuung, aber mit Begleitmaßnahmen wie FFP2-Masken oder den G-Regeln. Das heißt, man kann vieles machen, aber es kommt zu keinem Stillstand. Dieser Balanceakt ist bis heute nicht gelungen – wir machen entweder zu oder ganz auf. Das ist enttäuschend.
Wie wird jetzt noch das Virus in Schach gehalten?
Es gibt eigentlich gar nichts mehr so wirklich, um diese Epidemie noch zu handeln. Das Impfen ist zum Erliegen gekommen, es besteht derzeit keine Idee, das wieder aufzubauen. Auch das Contact Tracing gibt es kaum noch, das kostenlose flächendeckende Testen wird zurückgefahren. Aus medizinischer Sicht ist das überhaupt nicht mehr nachvollziehbar, schon die längste Zeit nicht mehr. Man muss ganz klar trennen zwischen dem, was medizinisch ratsam ist, und dem, was man sich politisch ausmacht. Mit den aktuellen Regelungen geht man ein höheres Risiko ein, offensichtlich willentlich. Das muss man auch verantworten. Es geht dabei nicht nur um die vorzeitig an Covid-19 Verstorbenen, sondern auch darum, die Spitäler zu belasten. Nach zwei Jahren ist die dauernde Belastung für das Personal eine Zumutung.
Stichwort Testen. Was halten Sie von der neuen Regelung?
Ich fand das kostenlose flächendeckende Testen eine wichtige Säule – es ist aus epidemiologischer Sicht ein wichtiger Eckpfeiler, um das Infektionsgeschehen zu beobachten. Auch wenn es kein perfektes System ist und Schwachstellen hat, etwa, dass man 24 Stunden auf das Ergebnis warten muss, hilft es uns, einen gewissen Anteil an Menschen, die infektiös sind, frühzeitig aus der Infektionskette zu nehmen. Wenn wir das nicht mehr haben, sind noch mehr unterwegs, die keine oder kaum Symptome haben und andere anstecken. Im Vergleich zu anderen Ländern hat das doch sehr gut funktioniert in Österreich. Zehn Tests pro Monat sind aber immerhin besser als nichts.
Als Argument werden auch die Kosten vorgebracht.
Da muss man auch gegenrechnen, was es bringt. Personen, die ins Krankenhaus kommen, weil sie angesteckt worden sind und behandelt werden müssen, kosten auch etwas. Für Wien gibt es klare Berechnungen, dass sich die Kosten für das Testen in Bezug auf die Kosten für Behandlungen rechnen. Ich habe mich aber immer für einen Solidaritätsbeitrag von Ungeimpften ausgesprochen, weil Ungeimpfte einen geringen Beitrag leisten, dass wir aus der Pandemie herauskommen. Nicht den vollen Kostenbeitrag, aber eben ein Solidaritätsbeitrag.
Wann werden die Infektionszahlen wieder niedriger?
Der Zeitpunkt, wo wir uns wieder zurücklehnen können, hat sich nach hinten verschoben – es wird schwer sein, wieder unter 50.000 Neuinfektionen pro Tag zu kommen. Ich rechne damit, dass wir auf Basis des jetzigen Infektionsgeschehens sowie saisonaler Überlegungen bis Anfang Mai auf ein niedriges stabiles Niveau kommen. Mittel- oder langfristiges Problem ist und bleibt, dass die Durchimpfungsrate in Österreich zu niedrig ist. Wenn es hier keinen energischen Schub gibt, die Impfrate zu erhöhen, ist im Herbst ein gröberes Problem vorprogrammiert.
Was heißt das konkret?
Die Politik hat durch ihr nicht mehr nachvollziehbares Hin und Her hinsichtlich der Maßnahmen Glaubwürdigkeit eingebüßt. Es wird schwer sein, die Bereitwilligkeit der Bevölkerung für Maßnahmen, die dann im Herbst notwendig sein werden, wieder zu erhöhen. Das liegt zum einen an der Kommunikation, aber auch an anderen jetzt anstehenden Konflikten (Anm.: gemeint ist der Krieg in der Ukraine), die massive Auswirkungen auf die psychische Verfassung unserer Gesellschaft haben werden. Man darf nicht vergessen, dass sehr viel zusammenkommt – der Herbst wird sehr schwierig sein.
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