Ansturm auf Ordinationen: "Die Viren sind zurück und zwar alle auf einmal"
Niesen, Schnupfen, Husten – derzeit haben sich in Österreich viele Menschen einen grippalen Infekt zugezogen, ein großer Teil davon ist so krank, dass sie einen Arzt aufsuchen, wie die Statistik zeigt. Berechnungen der AGES, die tatsächliche Erkrankungen für ganz Österreich hochrechnet, belegen, dass aktuell ein starker Anstieg bei grippeähnlichen Erkrankungen zu beobachten ist. In der Kalenderwoche 45 waren laut AGES 2.336 Menschen je 100.000 Einwohner in Österreich erkrankt – der höchste Wert der vergangenen drei Jahre.
"Im Moment beobachten wir sehr viele Infekte, die die Atemwege betreffen, etwa einen starken Anstieg von RSV (Anm.: Respiratorische Synzytial-Virus) und extrem viele Infektionen mit Rhinoviren, die Erkältungen verursachen. Aber auch Enteroviren, die normalerweise nur im Sommer auftreten (Anm.: "Sommergrippe"), zirkulieren jetzt im November nach wie vor", sagt Virologin Monika Redlberger-Fritz von der MedUni Wien.
Grippemeldedienst beobachtet Verschiebung bei grippalen Infekten
Laut Grippemeldedienst der Stadt Wien zeigt der Saisonvergleich eine deutliche Verschiebung bei grippalen Infekten. In Kalenderwoche 45 betrug die hochgerechnete Anzahl neuer grippaler Infekte und Grippeerkrankungen in Wien 10.900. Auch für Vor-Pandemieverhältnisse ist das zu dieser Jahreszeit ein hoher Wert. 2017 waren es in der Kalenderwoche 45 4.600 Neuerkrankungen, 2018 4.800, 2019 betrug der Wert 5.800.
Infektionen mit verschiedenen Viren gleichzeitig
Während Ärztinnen und Ärzte vor der Pandemie einen virologischen Kalender beobachten konnten, das heißt, ungefähr wussten, zu welcher Jahreszeit, welche Viren zirkulieren – RSV etwa üblicherweise zur Weihnachtszeit – ist dieser nun außer Kraft gesetzt. Infektionen mit verschiedensten Viren treten zu anderen Zeiten als bisher üblich sowie auch gleichzeitig auf.
Das gilt auch für Influenzaviren, die die echte Grippe auslösen – sie verbreiten sich derzeit hierzulande ebenfalls, allerdings noch nicht stark. Redlberger-Fritz: „Die Grippewelle hat noch nicht begonnen, aber wir sehen, dass Grippeviren in Österreich vorhanden sind. Ungewöhnlich ist, dass sie zwar sporadisch aber konstant zirkulieren – das beobachten wir üblicherweise vier bis sechs Wochen vor Beginn der Grippewelle und ist heuer mit Oktober/November früher als sonst – üblicherweise ist das erst im November/Dezember der Fall. Ich gehe davon aus, dass die Grippewelle heuer früher beginnen wird.“
Viren und Bakterien, die grippale Infekte auslösen, werden typischerweise über Schmierinfektion und Tröpfcheninfektion übertragen. Einfach Hygienemaßnahmen wie Händewaschen können die Verbreitung maßgeblich eindämmen.
Enteroviren: Sie verursachen vor allem Magen-Darm-Beschwerden, können aber auch Atemwegsinfekte auslösen. Bei Infektionen werden die Symptome behandelt, eine kausale Therapie gibt es nicht.
Rhinoviren: Rhinoviren zählen zu den Enteroviren und verursachen vor allem Schnupfen und Erkältungen. Es gibt mehr als 100 verschiedene Rhinoviren, mit denen sich Menschen infizieren können. Bei Kindern können sie auch Bronchitis auslösen. Eine spezielle Therapie oder Impfung ist nicht verfügbar. Bei Menschen ohne Immunschwäche werden jedoch keine schweren Verläufe beobachtet.
RS-Viren: Das Respiratorische Synzytial-Virus betrifft die oberen Atemwege. Während Erwachsene nur einen Schnupfen bekommen, kommt es bei Kleinkindern häufig zu Husten, Bronchitis und Luftnot, die oft ambulant oder vom Kinderarzt behandelt werden kann. Bei Risikokindern sind lebensbedrohliche Verläufe möglich. Das gilt auch für ältere Erwachsene. Es gibt keine Impfung, nur die Symptome können behandelt werden.
Influenza-Viren: Die echte Grippe ist eine Erkrankung der Atemwege und sehr ansteckend. Typisch ist ein plötzlicher und heftiger Ausbruch, ähnlich einer starken Erkältung, meist jedoch etwas stärker und mit Fieber. Es gibt eine jährlich angepasste Impfung. Kindern kann sie über die Nase verabreicht werden.
Pneumokokken: Pneumokokken sind keine Viren, sondern Bakterien, die Lungenentzündungen auslösen können. Vor allem bei Kindern und älteren Erwachsenen kann es zu schweren Verläufen kommen. Eine Infektion kann mit Antibiotika behandelt werden, eine Impfung ist verfügbar.
SARS-CoV-2: Das Virus ist Auslöser der Infektionskrankheit Covid-19, die erstmals Ende 2019 in Wuhan, China, auftrat. Der Verlauf der Erkrankung ist je nach Mutation und infizierter Person sehr unterschiedlich. Innerhalb kurzer Zeit konnten Impfungen und Therapien entwickelt werden.
Eine solche Verschiebung der Grippewelle konnte in Australien und in den USA beobachtet werden. Wie auch bei uns hatte das Influenzavirus wegen der strengen Corona-Maßnahmen eine Pause eingelegt – Abstandsregeln und Maskenpflicht verhinderten eine Ausbreitung. Im heurigen australischen Winter kam es im Zuge der Lockerungen dann zu einer starken Grippewelle in vielen Landesteilen, die deutlich früher auftrat als erwartet.
In den USA begann die heurige Grippesaison ebenfalls früher. Schätzungen der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC zufolge gab es in dieser Saison bisher bereits mindestens 1,6 Millionen Erkrankungen und 730 Grippetote, wobei die Grippewelle noch nicht vorbei ist. Die USA sind derzeit ebenso mit einem starken Anstieg an RSV-Infektionen konfrontiert.
"Die Viren sind zurück"
Besonders die Gruppe der Null- bis Vierjährigen ist von grippeähnlichen Infekten betroffen – auch in Österreich. "Wir erleben derzeit einen außerordentlich starken Ansturm in der Ordination, hauptsächlich sind es grippeähnliche Erkrankungen, wobei RSV-Infektionen häufig sind. Sie können vor allem für ehemalige Frühgeborene und Kinder mit chronischen Erkrankungen lebensbedrohlich werden“, sagt der Wiener Kinderarzt Peter Voitl.
Der Anstieg sei "erwartungsgemäß". "Nach den Corona-Maßnahmen und Lockdowns sind die Viren nun zurück und zwar alle auf einmal. Die Bevölkerung ist gerade extrem empfänglich für Infektionen, das gilt insbesondere für Kinder", betont Voitl.
Wer ein Kind mit erhöhtem Risiko hat soll daher besonders auf Hygienemaßnahmen achten und nur Besuch zulassen, der gesund ist. Ein Kind mit Schnupfen könne durchaus in den Kindergarten gehen, meint Voitl. Kommt es aber zu Fieber oder Schmerzen sollten Eltern ihre Kinder zuhause lassen. „Ich empfehle, Kinder gegen Grippe und Pneumokokken impfen zu lassen. Das gilt auch für Betreuerinnen und Betreuer.“
Kindern zwischen zwei und fünf Jahren kann der Grippeimpfstoff über die Nase verabreicht werden. Das werde gut toleriert und ist im kostenlosen Impfprogramm enthalten. „Man muss es ganz deutlich sagen: Es werden auch im kommenden Winter wieder Kinder an Influenza sterben. Jetzt können wir etwas dagegen tun“, so Voitl. Er rechnet mit einem Anstieg der Grippeinfektionen zur Weihnachtszeit.
RSV auch für Ältere problematisch
Eine zweite Risikogruppe sind ältere Personen ab 65 Jahren. Für sie können nicht nur Grippeviren, sondern auch RS-Viren problematisch werden. „RSV wird aber unterschätzt und unterdiagnostiziert. Vor allem ältere Personen werden nicht darauf getestet. Das Virus kann aber insbesondere bei Alten- und Pflegeheimbewohnern ein fast genauso großes Problem darstellen wie Grippeinfektionen“, sagt Virologin Redlberger-Fritz.
Ein Vorteil der Pandemie sei, dass die Bereitschaft für das Testen auf Viren gestiegen sei. „Bei RS-Viren gibt es zwar Schnelltests, diese funktionieren bei Kindern gut, bei Erwachsenen allerdings nicht und die PCR-Diagnostik wird von den Krankenkassen nicht bezahlt. Die Hemmschwelle, sich privat testen zu lassen, ist daher groß. Ich hoffe aber schon, dass die Pandemie dazu geführt hat, dass im stationären Bereich mehr auch auf RSV getestet werden.“
Redlberger-Fritz rät jedenfalls dazu, wenn man Symptome wie Schnupfen oder Niesen hat, zuhause zu bleiben. „Auch wenn man Covid-negativ getestet ist, kann man andere Viren weitergeben. Wenn ich nicht zuhause bleiben kann, sollte es Alltagsroutine sein, sich bei Kontakt mit anderen die Maske aufzusetzen.“
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