Gabriele Fischer: Die Suchterkrankung ist ein Teil des psychiatrischen Spektrums, also der seelischen Gesundheit, die noch immer mit einem hohen Stigma versehen ist. Zugrundeliegend sind andere psychiatrische Erkrankungen, die häufig, wenn sie nicht behandelt werden, in einer Art Selbstmedikation münden, sodass Menschen Substanzen wie Alkohol konsumieren. Zu Beginn des Jahres wurden auch die nicht substanzgebundenen Suchterkrankungen wie Glücksspiel und Gaming in den Diagnosekatalog aufgenommen. Problematisch ist der deutliche Mangel an Psychiatern, insbesondere im Kinder- und Jugendbereich. Eltern wissen oft nicht, wohin sie sich wenden können.
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Welche Folgen hat dieser Mangel ?
Unter Jugendlichen konsumieren vor allem jene gefährliche Drogen, die eine andere Grunderkrankung haben, etwa Depressionen oder Aufmerksamkeitsstörungen wie ADHS. Bei ihnen kommt es rasch zur Dosissteigerung und zur Intensivierung der Frequenz. Sie fallen meist auf, weil sie Alkoholvergiftungen haben oder z. B. zu viel Cannabis konsumieren. Wir wissen seit Jahren, dass der Kinder- und Jugendpsychiater ein Mangelberuf ist und dass Betroffene oft hilflos sind. Aber das wichtigste wäre eine ärztliche Diagnostik, um festzustellen: Hat das Kind auch eine Angsterkrankung? Liegt ADHS vor? Wir haben aber in Österreich immer noch eine Reparaturmedizin und keine Präventionsmedizin.
Wie ist es bei Erwachsenen?
Der Gesundheitsbereich ist Ländersache mit vielen strukturellen Problemen – außerstädtisch gibt es etwa eine deutliche Unterversorgung. Wir haben fehlende Anlaufstellen und lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz. Das müsste viel niederschwelliger sein und an die Patientenbedürfnisse angepasst. Es braucht z. B. Abendambulanzen für Berufstätige. Das wird hoffentlich jetzt über die Primärversorgungszentren kommen. Eine große Hoffnung ist auch die Telemedizin. Die Suchterkrankung ist eine der teuersten Erkrankungen für die Gesellschaft. Wird nicht früh behandelt, entstehen massive Kosten, weil die Leute nicht mehr arbeiten.
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Eine große Zunahme haben Sie bei der Esssucht beobachtet. Sie ist aber nicht im WHO-Diagnosekatalog.
Klinisch und in bildgebenden Verfahren gibt es bei der Esssucht keinen Unterschied zu anderen substanzgebundenen Süchten. Wenn man adipöse Menschen befragt, sehen sie das genauso: diesen Kontrollverlust bei Essanfällen, das Vorhaben, morgen aufzuhören, das nicht gelingt. Fast jeder kennt das, wenn man frustriert ist und dann vielleicht zu Schokolade greift. In dem Moment kommt es zu einer Dopaminausschüttung – genauso wie beim Rauchen oder beim Alkoholkonsum. Man fühlt sich im Moment gut. Zur Suchtentwicklung kommt es, wenn zudem psychiatrische Erkrankungen vorliegen, wir sehen häufig Depressionen und Ängste. Ich muss erst einmal die Grundproblematik behandeln – das geht natürlich nicht nur mit einer Diätberatung, sondern es braucht verhaltenstherapeutische Lebensstilveränderungen.
Wie häufig sind Rückfälle?
Rückfälle sind kein Versagen, sondern gehören zum Krankheitsverlauf dazu. Ein professionelles Setting schaut, dass die Rückfallintensität weniger wird, dass zum Beispiel weniger Essanfälle auftreten. Das versucht man mit verhaltensmodifizierenden Maßnahmen und schaut, welche Alternativszenarien es gibt, anstatt diesem Druck nachzugeben. Es wird versucht, dass die Zeit zwischen Rückfällen länger wird. In Bezug auf die Esssucht zeigt die neue Abnehmspritze sehr gute Erfolge, weil sie dem Gehirn ein Sättigungsgefühl vermittelt. Diese Form der Intervention ist gut, aber natürlich nur mit begleitenden Maßnahmen. Denn sonst kann es zur Suchtverlagerung kommen, dass man vielleicht zwar weniger isst, aber dann plötzlich mehr Alkohol trinkt. Das Schwierige bei der Behandlung von Sucht ist, dass Betroffenen etwas genommen wird, das primär positiv besetzt ist, weil es etwa hilft, negative Gefühle zu unterdrücken. Und daran muss man arbeiten.
Buchtipp
"Sucht. Neue Erkenntnisse und Behandlungswege" von Gabriele Fischer und Arkadiusz Komorowski, MANZ Verlag, 232 Seiten, 23,90 Euro
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