
Mollys Embryo ist 27 Jahre alt – nur ein Jahr jünger als ihre Mutter.
© Getty Images/iStockphoto / Vernon Wiley/Thinkstock
Fast 28 Jahre auf Eis: Embryo als gesundes Baby geboren
Der US-Sprössling namens Molly bricht damit einen Rekord. Langzeitfolgen sind laut unbeteiligten Medizinern nicht ganz auszuschließen.
Molly Everette Gibson wurde schon vor Jahrzehnten im Reagenzglas gezeugt – und ist dennoch erst einen Monat jung. Das Mädchen wurde Ende 1992 nach der künstlichen Befruchtung im sechs- bis achtzelligen Embryonalstadium (zur damaligen Zeit in der Regel am dritten Tag nach der Befruchtung, heute friert man meist an Tag fünf oder sechs, Anm.) tiefgefroren und konserviert. Fast 28 Jahre vergingen, bis der Embryo Anfang dieses Jahres aufgetaut und in die Gebärmutter der US-Amerikanerin Tina Gibson eingesetzt wurde.
Zuvor hatten Tina Gibson und ihr Mann Ben – das Paar kann wegen Fruchtbarkeitsproblemen keine eigenen Kinder bekommen – den Embryo über ein Spendezentrum adoptiert.
Mollys Geburt führt den Status quo des fruchtbarkeitsmedizinischen Fortschritts vor Augen – und ist rekordverdächtig: So scheint Molly aus dem bisher am längsten eingefrorenen Embryo entstanden zu sein. Seit 2017 hielt diesen Rekord Mollys Schwester Emma (der KURIER berichtete); ihr Embryo lag 24 Jahre auf Eis.
"Schneebaby"
Tina Gibson war bei Emmas Geburt 25 Jahre alt und so kaum älter als der Embryo, der ebenfalls 1992 nach einer künstlichen Befruchtung eines anonymen Paares als sogenanntes "Schneebaby" eingefroren wurde. "Bei Emma waren wir einfach so begeistert, endlich ein Baby zu bekommen", erzählte Tina Gibson zu Wochenbeginn im Interview mit CNN. "Mit Molly war es genauso. Es ist nur irgendwie schon lustig – nun haben wir wieder einen Weltrekord gebrochen."
Betreut wurde das Paar aus dem US-Bundesstaat Tennessee wie schon bei Tochter Emma vom National Embryo Donation Center (NEDC), einer gemeinnützigen Organisation, die gefrorene Embryonen lagert, die bei anderen IVF-Patientinnen (künstliche Befruchtung) nicht zum Einsatz kamen und anonym gespendet wurden. Familien können diese adoptieren. Sie werden infolge in die Gebärmutter eines Adoptivelternteils transferiert.
Man bedient sich dabei dem Verfahren der Kryokonservierung. Dabei wird Gewebe bei minus 196 Grad Celsius in flüssigem Stickstoff eingefroren und so über lange Zeit für eine spätere Verwendung aufbewahrt.
Rechtliche Lage
Der nicht ganz unumstrittene Prozess ist in den USA recht liberal geregelt, in Österreich ist das medizinisch begründete Einfrieren von Samen- und Eizellen erlaubt. "Embryonen dürfen kryokonserviert werden, wenn sich bei einer Fruchtbarkeitsbehandlung mehr Embryonen entwickelt haben, als transferiert werden können. Beispielsweise bei einer Überstimulation oder aus dringenden medizinischen Gründen", sagt Andreas Obruca, Leiter des Kinderwunschzentrums an der Wien. Allerdings sei die Aufbewahrungszeit von tiefgefrorenen Embryonen in Österreich auf zehn Jahre beschränkt. Eine Embryospende sei nicht erlaubt, auch dürften nicht beliebig viele Embryonen produziert werden. "Es dürfen also nur so viele Eizellen befruchtet werden, wie für eine erfolgreiche Behandlung notwendig sind."
Folgen nicht absehbar
Langzeitprobleme seien bei dauerhaft eingefrorenen Embryonen schwierig abzuschätzen und zumindest nicht ganz auszuschließen, sagt der Experte: "Etwa, wenn es zu Temperaturschwankungen bei der Lagerung gekommen ist."
Theoretisch bleibe der Embryo in dem Moment, in dem er mittels komplexer Spezialtechnik gefroren wird, entwicklungstechnisch stehen. "Wenn das Einfrieren also perfekt funktioniert und keinerlei Schädigungen passieren, ist anzunehmen, dass der Embryo unversehrt bleibt", sagt der Fruchtbarkeitsmediziner.
Hodengewebe, das für die Befruchtung der Eizelle im Zuge einer Fertilitätsbehandlung gewonnen wird, darf auch haltbar gemacht werden, ebenso wie Samenzellen oder unbefruchtete Eizellen bei Krebspatienten und -patientinnen, denen durch Tumorbehandlung oder Chemotherapie Unfruchtbarkeit droht. Frauen mit schwerer Endometriose oder geringer Eizellreserve sowie Männer mit Hodenerkrankungen haben ebenso Anspruch darauf. Auch bei einer geplanten Geschlechtsangleichung darf eine Kryokonservierung erfolgen.
Social Freezing, also das bewusste Einfrieren von Eizellen in jungen Jahren für eine spätere Familienplanung, ist hierzulande nicht gestattet.
Laut CNN überleben 75 Prozent aller gespendeten Embryonen am National Embryo Donation Center den Auftau- und Transferprozess, zwischen 25 und 30 Prozent aller Implantationen in den Uterus sind erfolgreich.
Molly erblickte Ende Oktober mit einem gesunden Geburtsgewicht von 2,72 Kilogramm das Licht der Welt. Jeffrey Keenan, medizinischer Leiter des NEDC, sieht darin den Beweis, dass Embryonen trotz hohen Alters verwendet werden können. Der medizinische Erfolg spiegle des Potenzial erprobter Technologien wider, mit deren Hilfe "Embryonen für die zukünftige Verwendung in unbestimmtem Zeitrahmen aufbewahrt werden können", wird zudem Carol Sommerfelt, Laborleiterin und Embryologin des Zentrums, in einer Pressemitteilung zitiert.
Für die Gibsons ihr Winzling jedenfalls "ein Funken Freude" in einem von der Corona-Pandemie überschatteten Jahr.
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