Entscheidung über Leben und Tod: Was Sie über die Triage wissen müssen
Mehr als 1.000 der bisher 13.076 Pandemie-Opfer starben allein in den vergangenen Wochen. Mit 670 Intensivbetten verzeichnete Österreich vor wenigen Tagen einen traurigen Rekordwert. Obwohl sich die Lage langsam entspannt, gibt es in jenen Bundesländern, die am Sonntag komplett aufsperren, sogar deutlich mehr schwere Covid-Fälle in den Spitälern als zu Lockdown-Beginn.
Dabei wäre die kritische Lage in Österreichs Spitälern mit einer höheren Impfquote vermeidbar gewesen. Denn allein in Wien kommen auf jeden Geimpften acht Ungeimpfte auf Intensivstationen. Die Folge im ganzen Land: Große Operationen müssen verschoben werden, da die knappe Ressource Intensivbett für Corona-Patienten freigehalten werden muss.
Manche Medien berichten deswegen von einer "stillen Triage": Christiane Druml, Vorsitzende der Bioethikkommission spricht von einer "Vorab-Triage". Die Juristin und Ethik-Expertin übt auch Kritik an der Politik, epidemiologische Maßnahmen an die Anzahl von belegten Intensivbetten geknüpft zu haben, was jetzt zu "dramatischen Folgen" führt.
KURIER: Die Triage hat ihre Wurzeln in der Militärmedizin und wurde erstmals in den Napoleonischen Kriegen angewandt. Bei der Auswahl von Verwundeten stand die Frage im Vordergrund, wer die besten Überlebenschancen hat und wer am Schlachtfeld zum Sterben zurückgelassen wird. Scheuen wir uns deswegen, den Begriff der Triage zu verwenden?
Christiane Druml: Eine schwierige Frage, weil ich nicht glaube, dass jeder ein historisches Wissen besitzt und sich unter dem Begriff etwas Genaues vorstellen kann. Zudem müssen Entscheidungen mit knappen Ressourcen immer getroffen werden. Im Prinzip ist jede medizinische Entscheidung auch eine Entscheidung über Leben und Tod: Wie werde ich behandelt? Gibt es die richtige Therapie für mich? Das betrifft nicht nur die Situation der Pandemie, sondern generell. Eventuell hat der Begriff in den vergangenen Monaten ein Eigenleben bekommen und lässt einige vermuten, dass er sozusagen nichts Gutes verheißt. Letztlich ist nichts anderes damit gemeint, als dass eine Entscheidung getroffen werden muss, welcher Patient behandelt wird.
Das Ziel ist mit einer Triage mehr Menschenleben zu retten als ohne?
Ja, sicher, davon muss man ausgehen. Was wir mit dem Begriff verbinden und woran wir uns gut erinnern, ist der Beginn der Pandemie in der Lombardei sowie in Elsass und Lothringen. Damals waren besonders viele Menschen gleichzeitig Intensivmedizin-bedürftig und die Krankenhäuser hatten keine Kapazitäten, so viele Menschen gleichzeitig zu behandeln. Deswegen mussten Patienten ausgeflogen und in anderen Regionen behandelt werden. Generell muss man sagen: Nicht nur die Anzahl der Intensivbetten ist in einer Pandemie begrenzt – das betrifft auch das Personal, das diese Intensivbetten betreut und die Menschen dort behandelt. Ärzte und Pflegepersonal haben eine sehr lange Ausbildung und es gibt eigene Spezialisierungen. Vor allem für die Beatmung und die Behandlung von Patienten, die ein Organversagen haben, braucht es viel Wissen und Erfahrung.
Es gibt keine „freien“ Intensivbetten, weil sie eine so teure und aufwändige Ressource sind. Im Normalfall gibt es eine kleine Anzahl von Intensivbetten, die für Unfälle oder Katastrophen freigehalten werden, aber alle anderen werden für große Operationen verplant, wo man Intensivbetten für ein paar Tage nach der Operation braucht. Das heißt, im Normalfall wird diese Ressource immer gut gesteuert, es geht sich immer aus. In der Pandemie aber haben wir das Problem, dass unser Gesundheitssystem die Anzahl der Intensivbetten als Richtwert für Maßnahmen ansieht. Wir haben diese magische Zahl der 600 Intensivbetten, die in dieser Menge das größte Problem darstellen, da man hier nicht mehr weitergehen kann, ohne das gesamte Gesundheitssystem zu gefährden. Das Problem, das ich sehe, ist, dass wir die Endsituation – das Intensivbett – als Maß aller Dinge gesehen haben. Dabei müssten vom Staat schon viel früher Maßnahmen getroffen werden, damit es erst gar nicht so weit kommt und die Intensivbetten knapp werden und es damit auch zu dramatischen Folgen führt.
Wann hätte man tätig werden müssen?
Das ist etwas, worüber man mit den einschlägigen Experten reden muss: Einerseits sind es die Inzidenzen, anderseits kann man durch die Kontrolle des Abwassers und das Messen der Viruslast sehr gut planen und schon früher eingreifen. Denn wir wissen ja, wenn die Patienten ins Krankenhaus kommen und es ihnen bereits schlecht geht, dann besteht kurze Zeit danach die Gefahr, dass sie beatmungspflichtig werden. Und dann lässt sich nichts mehr steuern, dann nimmt das Schicksal seinen Lauf.
Man hätte wahrscheinlich schon vorab Maßnahmen treffen müssen, um zu steuern, dass nicht so viele Kontakte stattfinden und daher nicht so viele Ansteckungen passieren können, damit wir gar nicht erst so weit kommen, dass Intensivbetten knapp werden und Ärztinnen vor schwierige Entscheidungen gestellt werden.
Wird also jetzt in der 4. Welle eine Triage angewandt?
Vor allem eine Vorab-Triage. Große Operationen, wo man weiß, dass die Patienten womöglich einige Tage danach eine Intensivbehandlung brauchen, werden verschoben oder sogar abgesagt, wenn sie nicht akut notwendig sind. Das betrifft viele Menschen, ein Beispiel: Wenn die Großmutter eine neue Hüfte benötigt, aber ein schwaches Herz hat, wird die Operation derzeit nicht stattfinden, weil die Ressource Intensivbett eben nicht vorhanden ist in ausreichender Zahl. All das hat Auswirkungen auf diese Menschen.
Geht es nur um das Verschieben von Operationen oder müssen Patienten, die nach einer OP eigentlich auf der Intensiv gelegen hätten, früher auf die Normalstation?
Patienten, die nicht beatmet werden, können vielleicht auf Intensivstationen oder in Aufwachräumen sein, wo weniger Beatmungsplätze sind. Das wird ohnehin gemacht. Man kann aber nicht Patienten, die Sauerstoff brauchen und deren Lungenfunktion beeinträchtigt ist wie bei Covid-19 von der Beatmungsmaschine herunternehmen, um eine OP, die man verschieben hätte können, durchzuführen. Natürlich besteht bei all jenen, die nicht zum geplanten Zeitpunkt operiert werden können, das Risiko, dass sich ihre Prognose verschlechtert.
Die Bio-Ethikkommission hat im Frühjahr 2020 zu Beginn der ersten Welle Leitlinien zu diesem Thema herausgegeben: Sie nennt als ein Kriterium zur Entscheidung die Überlebenschancen: Es wird jener zuerst behandelt, der zum Beispiel das Beatmungsgerät am meisten braucht?
Die kurzfristige Überlebenschance sollte die Behandlungsorientierung sein. Im Grunde ist es wie bei jeder Aufnahme auf der Intensivstation: Es kommt ein Patient, bei dem zunächst geklärt werden muss, ob überhaupt eine Einwilligung für Intensivmedizin besteht und dann muss eine Indikation für die Behandlung und auch ein erreichbares Therapieziel vorhanden sein. Ich kann ja nicht einen Menschen, der im Sterben liegt, die volle und sehr komplexe Behandlung zukommen lassen, wenn ich weiß, dass keine Chance auf Überleben besteht. Hier kann die Entscheidung auf palliative Betreuung lauten. Ich muss das Therapieziel als eine Verbesserung der Situation ansehen.
Und dieses Therapieziel muss ich ständig neu, jeden Tag in jeder Situation neu befragen: Schaffe ich es als Arzt oder als Team, den Patienten so zu behandeln, dass es ihm besser geht oder ist es aussichtslos? Wir haben als Bioethikkommission gesagt, wir möchten so viele Menschen wie möglich retten und da ist der maßgebliche Orientierungspunkt die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit. Es muss die Prognose ausschlaggebend sein, ob der Patient die Therapie überleben kann.
Es gibt auch Forderungen, dass es ein Gesetz zur Triage braucht, damit Ärztinnen und Ärzte verbindliche Regelungen haben. Wie stehen Sie dazu?
Die Intensivmedizin hat seit langem verbindliche Regeln – die Regeln sind nicht anders als in einer normalen Situation, wo ich ja auch nur die Menschen behandeln kann, für die es eine Indikation zur Behandlung und eine Prognose gibt. Das eigentliche Problem, das sich stellt, ist dass, mehr Patientinnen als Intensivplätze vorhanden sind, auf die Intensivstation kommen können.
Die Salzburger Landesklinik hat ein Komitee eingerichtet.
Die Verantwortung trägt der behandelnde Arzt, auch ein Komitee mit Juristen kann die Verantwortung nicht abnehmen, auch wenn hier die Last auf mehreren Schultern verteilt wird. Natürlich sollte im behandelnden Team eine Entscheidung getroffen und dokumentiert werden, aber Dokumentation ist ja sonst auch notwendig. Ein Komitee mag zur Besprechung sehr gut sein, aber im Grunde muss hier jeder einzelne Intensivmediziner entscheiden können. Warum sollte er es in so einer Situation nicht können und sonst schon?
Weil es in dieser zugespitzten Lage zu einer Überforderung kommen kann.
Sicher, aber da nützt ein Komitee nicht viel, wenn nicht auch andere erfahrene Intensivmediziner dabei sind und es auch schnell zur Hand ist. Die Entscheidung kann man ja nur auf Basis der Kenntnis der Laborwerte, der Krankengeschichte, des bisherigen Behandlungsverlaufs dieses einzelnen Patienten treffen. Ein Komitee kann hier unterstützend sein, aber die Verantwortung wird immer die ganz normale klinische Verantwortung sein. Ich kann nicht einem Juristen, der keine Ahnung von der Behandlung eines Patienten hat, die Verantwortung über die Behandlung meines Patienten geben.
Extreme Entscheidungssituationen könnten durch die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung vermieden werden. Schmerzt es Sie, dass ein Drittel der Österreicher keine Solidarität leben will?
Natürlich finde ich das sehr bedenklich, weil wir wissen, dass wir diese Pandemie alle nur gemeinsam bewältigen können. Und wie es jetzt ausschaut, ist die Impfung die einzige Maßnahme, die wir treffen können, weil es keine Medikamente gibt, die einen Erkrankten genauso schnell und gut retten können wie bei anderen Erkrankungen. Die vorhandene Desinformation, diese falschen Annahmen über Wissenschaft und Impfungen halte ich für sehr bedenklich und im Grunde für eine Gesellschaft im Jahr 2021 dramatisch.
Natürlich habe ich meine Freiheiten und die sind zu respektieren, aber eine Pandemie ist keine Privatsache. Die Entscheidung sich impfen zu lassen, ist eine völlig andere bei einer Impfung gegen FSME, die sogenannte Zeckenimpfung, als bei einer Impfung gegen eine Infektionskrankheit, die unsere Welt rund um den ganzen Globus dramatisch beeinträchtigt und verändert hat, wo viele Menschen gestorben sind, die nicht hätten sterben müssen, wo viele Behandlungen nicht möglich sind und dadurch schlechtere Prognosen für Kinder und Erwachsene gegeben sind.
Es ist sehr traurig, dass die Gesellschaft nicht miteinander in Solidarität und in Fürsorge füreinander agiert. Wir haben nicht mehr vor Auge, dass viele Erkrankungen Kinder unserer Großeltern- und Eltern-Generation schwer beeinträchtigt haben und viele Kinder an Kindererkrankungen gestorben sind. Insofern ist es unverständlich, dass die Impfung so eine schlechte Reputation hat.
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