Elektrokrampftherapie: Wie sicher und wirksam ist die kontroverse Methode?
Ein Elektrokonvulsionstherapie-Gerät.
Unbehagen, Angst vor Schmerzen und Kontrollverlust, Gedanken an Strafe und Folter: Mit dem Begriff der Elektrokrampftherapie (auch Elektrokonvulsionstherapie, EKT) verbinden viele eine Reihe unangenehmer Vorstellungen. In den 1930er-Jahren entwickelt, wird das Verfahren auch heute noch in der Psychiatrie angewandt.
Bei der EKT wird im Gehirn ein kontrollierter epileptischer Anfall mittels elektrischer Impulse ausgelöst. Die Elektroschocks werden heute mit modernen Apparaten und unter gleichzeitiger Gabe von Muskelrelaxanzien verabreicht, die Betroffenen in Kurznarkose versetzt. Dadurch sind die Verletzungsrisiken, wie sie bei der frühen Anwendung auftraten, gebannt.
Studie: EKT hat möglicherweise mehr Nebenwirkungen als bisher angenommen
Allerdings könnte die Therapiemethode ein breiteres Spektrum an Nebenwirkungen hervorrufen als bislang angenommen, wie eine neue Studie nahelegt. Neben bekanntem kurz- und längerfristigem Gedächtnisverlust wurden in der Untersuchung 25 weitere Begleitsymptome – darunter Herz-Kreislauf-Probleme, Müdigkeit und emotionale Abstumpfung – identifiziert.
Die im International Journal of Mental Health Nursing veröffentlichte Untersuchung stützt sich auf eine Befragung von 747 EKT-Patienten und 201 Angehörigen und Freunden – und damit auf Selbstauskünfte, die anfällig für Unschärfen und Verzerrungen sein können.
Die Autoren formulieren ihre Kritik dennoch scharf: Die EKT-Forschung sei "mangelhaft und unschlüssig". John Read, Psychologe an der University of East London und Hauptautor der Studie, fordert im Interview mit dem Guardian gar, die EKT temporär einzustellen: "Da wir immer noch nicht wissen, ob EKT wirksamer ist als Placebo, machen diese neuen Erkenntnisse es umso dringlicher, dass sie bis zu einer gründlichen Untersuchung (...) ausgesetzt wird."
Debatte über Nutzen und Risiken der Elektrokrampftherapie
Die Studie fügt sich in eine breitere Debatte über die Berechtigung der EKT ein: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) pochte in einem im März dieses Jahres veröffentlichten Papier auf eine Stärkung der Betroffenenrechte. Eine EKT dürfe keinesfalls zwangsweise gegen den Willen von Patientinnen und Patienten und auch nicht bei Kindern durchgeführt werden. Allgemein solle vom Einsatz irreversibler Praktiken, unter der die WHO neben Hirnoperationen auch die EKT anführt, abgesehen werden.
In der psychiatrischen Fachgemeinschaft sorgte der Bericht für Aufruhr. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) unterstrich in einem offenen Brief die Wirksamkeit und Wichtigkeit der Methode im klinischen Alltag.
Alte, aber vielfach "als wirksam beurteilte" Methode
"Natürlich ist die EKT ein altes Verfahren", sagt Psychiaterin Pia Baldinger-Melich, die an der MedUni Wien zur Wirksamkeit des Verfahrens forscht. "Aber dadurch ist sie, im Vergleich zu Psychopharmaka, die es erst vergleichsweise kurz gibt, viel besser erforscht", sagt Baldinger-Melich, die am AKH Patientinnen und Patienten mittels EKT behandelt.
Tatsächlich lockerte die US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA bereits 2018 wegen ausreichend belegter Sicherheit und Wirksamkeit die Regulationsvorschriften für EKT-Geräte. Allerdings nur zur Behandlung schwerer Depressionen und Katatonie (ausgeprägte Störung der Motorik, die sich in einer stark verkrampften Haltung äußert, kann u. a. bei Schizophrenie auftreten).
Auch Baldinger-Melich betont den vielfach nachgewiesenen Nutzen. Den Vorwurf der britischen Studienautoren, die Forschung zur EKT sei "mangelhaft und unschlüssig", weist sie zurück. "Es gibt große, solide Studien, wo die EKT Antidepressiva oder auch Ketamin, einem neuen Hoffnungsträger in der Psychiatrie, gegenübergestellt und als wirksam beurteilt wurde."
Es sei gefährlich, öffentlich derartige Aussagen über die EKT zu tätigen. "Weil das Vorbehalte, die viele der EKT gegenüber ohnehin schon hegen, schürt."
Die Annahme, dass in die Euthanasie-Morde verwickelte nationalsozialistische Psychiater die Schocktherapien rücksichtslos eingesetzt haben, prägt das Bild der Behandlung tatsächlich bis heute. "In Filmen finden sich immer wieder falsche Darstellungen – und auch Ärztinnen und Ärzte haben aufgrund von mangelndem Wissen nicht selten Berührungsängste", bedauert Baldinger-Melich.
Die EKT ist bei schweren Depressionen das Mittel der Wahl, wenn bereits alle anderen Therapieoptionen, etwa Psychopharmaka, ausgeschöpft sind und "eine vitale Gefährdung besteht", umreißt Baldinger-Melich. Letzteres bedeutet, dass die Menschen suizidal sind, nicht mehr ausreichend Nahrung zu sich nehmen, völlig antriebslos oder sogar psychomotorisch gehemmt sind. Die EKT ist insbesondere auch zur Behandlung einer Katatonie wirksam.
Was spricht gegen eine EKT?
Grundsätzlich ist eine EKT bei den allermeisten Patienten möglich, ein erhöhter Hirndruck kann gegen eine Anwendung sprechen. Bei Patienten mit einem Schlaganfall in der Vorgeschichte muss die Behandlung wegen des Narkoserisikos gut abgewogen werden.
Der genaue Wirkmechanismus ist nach wie vor Gegenstand der Forschung. "Allerdings können wir viele Therapien nicht zu 100 Prozent schlüssig erklären. Man weiß beispielsweise auch bei Antidepressiva nicht genau, wie sie wirken", sagt Baldinger-Melich.
Vermutet wird, dass es durch die EKT zu einer verstärkten Ausschüttung verschiedener Neurotransmitter und Nervenwachstumsfaktoren sowie einer Zunahme der Gehirnsubstanz kommt. "In Summe nehmen wir an, dass der Selbstheilungsmechanismen des Gehirns gefördert wird und sich das positiv auf die Symptome auswirkt."
Österreichweit kommt das Verfahren jährlich in etwa 1.000 Mal zur Anwendung
Am AKH wird die EKT rund 550 Mal pro Jahr durchgeführt. Österreichweit kommt das Verfahren jährlich in etwa 1.000 Mal zur Anwendung, schätzt Baldinger-Melich. "In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle der Fälle erfolgt die Therapie auf Wunsch und natürlich mit Einverständnis der Patienten."
Die Therapie erstreckt sich über mehrere Wochen. "Insgesamt werden die Patienten rund zwölf Mal behandelt, wobei jede Therapiesequenz nur wenige Minuten dauert – vergleichbar mit einer Magenspiegelung in Kurznarkose." Die Patienten sind vier bis fünf Wochen stationär aufgekommen. Spricht man gut auf die Behandlung an, kommen Patienten im Zuge einer Erhaltungstherapie einmal monatlich an die Klinik zur erneuten Durchführung.
Bekannte Nebenwirkung sind Kopfschmerzen, Übelkeit durch die Narkose und Orientierungsprobleme unmittelbar danach. "Wovor sich die Patienten fürchten, sind die kognitiven Nebenwirkungen", weiß Baldinger-Melich. "Die Zeit des Aufenthalts im Spital kann meist nicht gut erinnert werden, wobei sich diese Erinnerungslücken mit der Zeit schließen."
Anhaltende Gedächtnisstörungen seien extrem selten. "Es ist auch schwierig, sie eindeutig auf die EKT zurückzuführen. Depressive Erkrankungen gehen oft mit kognitiven Beeinträchtigungen einher. Langfristig werden die kognitiven Funktionen durch die EKT verbessert."
Baldinger-Melich schließt nicht aus, dass die EKT eines Tages durch ein anderes, potenziell noch differenzierteres Verfahren ersetzt werden könnte. Dennoch betont sie: "Zum jetzigen Zeitpunkt wäre es falsch und bedauerlich, Patienten eine sehr gute Behandlungsoption grundlos vorzuenthalten."
Kommentare