Psychotherapeutin: "Der Begriff Trauma wird völlig überstrapaziert“

Schatten-Foto einer jungen, nachdenklichen Frau.
Immer mehr Menschen kümmern sich um ihr Seelenleben. Eine Entwicklung, die auch Risiken birgt, sagt die deutsche Psychotherapeutin Gitta Jacob. Warum permanente Selbstbeschau problematisch ist und nicht jeder ein Trauma hat.

Psychotherapie hat in den vergangenen Jahrzehnten an gesellschaftlicher Akzeptanz gewonnen. Doch bedeutet das automatisch einen Fortschritt? 

Im KURIER-Interview erläutert die deutsche Psychotherapeutin und Buchautorin Gitta Jacob Chancen und Risiken des Heilverfahrens, kritisiert den inflationären Einsatz des therapeutischen Konzepts des "Inneren Kindes" und erklärt, warum es einen selbstverantwortlichen Umgang mit emotionalen Herausforderungen braucht. 

KURIER: Frau Dr. Jacob, Psychotherapie ist längst nicht mehr so tabuisiert wie früher. Eine gute Sache?

Gitta Jacob: Für alte Männer, die sich früher die Pistole an den Kopf gesetzt hätten, weil sie mit niemandem über ihre Gefühle geredet haben, ist das sicherlich eine gute Entwicklung. In vielerlei Hinsicht ist es aber auch eine schwierige.

Inwiefern?

Es hat dazu geführt, dass wir uns übermäßig mit negativen Aspekten unseres Innenlebens beschäftigen – und sie mitunter verstärken. Wenn man sich mit sich selbst beschäftigt, hat man vielleicht kluge Erkenntnisse, ändert etwas – aber man legt auch den Fokus auf Negatives, ist vorsichtiger mit sich, grenzt sich verstärkt ab, vermeidet Stress – wird weniger resilient. Es gibt Studien aus Australien, die zeigen, dass Kampagnen zur Sensibilisierung für das Thema Depression auch unerwünschte Folgen haben können: Sie erhöhtes das Depressionsvorkommen.

Wem würden Sie von einer Psychotherapie abraten?

Es ist klar, dass es schwere psychische Erkrankungen gibt, die Menschen ihren Alltag nicht mehr bewältigen lassen. Wenn jemand wegen Zwangsritualen stundenlang die Wohnung nicht verlassen kann, zum Beispiel. Das hat Krankheitswert und führt zu viel Leid, da muss psychotherapeutisch – auch mit Medikamenten – alles gemacht werden, was geht. Aber wenn es um Lebensschwierigkeiten geht, die jeder mal hat – ich bin gestresst vom Chef, ich fühle mich schlecht, weil ich auf Tinder geghostet werde –, finde ich den Ruf nach Psychotherapie nicht angemessen. Das sollte nicht vom Solidarwesen getragen und von der Krankenkasse bezahlt werden. 

Was wäre angebracht, wenn man eine kurzzeitige Krise erlebt?

Man müsste selbstverantwortlich und aktiv nach Lösungen suchen – im Austausch mit Freunden, in einem klärenden Gespräch mit dem Chef, mit Sport zur Ablenkung. Aber es nicht als Krankheit ins System tragen.

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Gitta Jacob ist Psychotherapeutin und Autorin von Büchern und Fachartikeln über Themen aus dem Bereich der Psychotherapie. 2024 erschien ihr Buch "Leben geht nur vorwärts: Wann es Zeit ist, das innere Kind in Ruhe zu lassen und durchzustarten" im Beltz-Verlag (21,50 €)

Welche Rolle spielt hier Coaching?

Coaching wäre sicher geeigneter, weil man berät, wie mit Dingen umgegangen werden kann. Allerdings muss man nicht immer einen Profi haben, um alltägliche Themen zu bewältigen. Je mehr es alle anderen machen, umso notwendiger erscheint es einem. Viele sind auf diesem Psychotherapie-Trip und finden es unverschämt, wenn ich komme und sage: "Du brauchst keinen Therapeuten, sondern gesunden Menschenverstand."

Viele Therapeutinnen und Therapeuten, auch Coaches, arbeiten mit dem Modell des Inneren Kindes: Kindlichen Prägungen, die im Erwachsenenalter nachwirken. Was sind die Vorteile?

Das Innere Kind ist eine Metapher, mit der man sehr gut arbeiten kann. Wenn man sich zum Beispiel in Gesellschaft oft einsam fühlt, lässt sich das vielleicht darüber erklären, weil man als Kind oft umgezogen ist und wegen der Sprache schwierig Anschluss gefunden hat – einsam war. Dann kann man Techniken anwenden und frühere Einsamkeitsgefühle in der Vorstellung mit Erfahrungen von Verbindung überschreiben. Das kann wirkungsvoll sein, weil man über diese inneren Bilder schnell Gefühle auslösen und verändern kann. Ein super Training fürs emotionale System. 

Und das Problem damit?

Ich beobachte, dass die Methode nicht dosiert genug eingesetzt wird. Das Innere Kind wird als Realität gesehen, um die man sich permanent kümmern muss. Das lädt zur Regression (Rückfall in frühere Entwicklungsstufen, Anm.) ein. Dass man unreif und unsicher wird, sich zurücklehnt, sich Herausforderungen im Leben nicht mehr stellt, sondern sich nur mehr um Gefühle und Belastungen kümmert. Wenn man Gefühle auf diese Art vertieft, werden sie stärker. Dann ist das Innere Kind schädlich.

Man hängt daran, das Innere Kind heilen zu wollen, und versäumt das Leben im Hier und Jetzt?

Das kann man so sagen, ja. Die Biografie wird häufig als etwas stark Individuelles dargestellt. Oft sind es aber normale Prägungen, die jeder hat. Jeder erlebt mal, nicht dazuzugehören, eine schlechte Note zu bekommen, ausgelacht zu werden – das gehört zum Menschsein dazu und sollte nicht zu einem bemerkenswerten Drama oder Trauma aufgebauscht werden.

Wie halten Sie es mit dem Begriff Trauma? 

Ich finde, er wird völlig überstrapaziert. Was schlimm für die Menschen ist, die wirklich schwer traumatisiert sind. Wenn der Vater früher mal wutentbrannt die Stofftiere weggeworfen hat, ist das kein Trauma, das ist nicht lebensbedrohlich oder furchtbar schrecklich. Diese Betonung des Traumas ist leider auch eine Mode in der Psychotherapie – da wird dann vonseiten des Therapeuten mitunter mal ein Trauma gesucht, wo keines ist. Auch Patientinnen und Patienten mögen die Traumaerzählung.

Wann ist Traumabearbeitung wichtig? 

Wenn man traumabezogene Symptome, insbesondere Flashbacks und Albträume, hat, ist eine Traumabearbeitung jedenfalls angezeigt. Wenn man die nicht hat, braucht man auch keine Traumatherapie, Punkt. Wenn ich depressiv bin, ist eine Auseinandersetzung mit dem Hier und Jetzt – mit dem, was heute guttut – hilfreicher.

Wird der Einfluss der Kindheit auf unser späteres Lebensglück überschätzt?

Total. Wir benehmen uns teilweise so, also würde sie alles erklären. Das ist Quatsch. Sicherlich gibt es Teile in unserem emotionalen Erleben, die durch Prägung erklärbar sind. Aber Gefühle sind auch stark temperamentbedingt und damit angeboren. 

Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen müssen sich machmal den Vorwurf gefallen lassen, sie würden ihre Patienten emotional abhängig von sich machen – an sich binden, Loslösung verhindern. Was entgegnen Sie?

Pauschal stimmt das nicht. Es gibt sehr viele Kolleginnen und Kollegen, die verantwortungsvoll agieren und hilfreiche Heilbehandlung anbieten. Es gibt aber einen gesellschaftlichen Trend zur Vulnerabilität, so eine Einigkeit, dass man sich mit allem möglichen Negativen befassen muss – und da spielt die Therapeutenschaft auch eine Rolle. Es gibt auch immer mehr Therapeuten und die wollen auch alle Patienten finden. Nicht alle Therapeuten machen ihre Patienten emotional abhängig, aber viele Menschen geben ihre emotionale Autonomie auf und sehen sich gerne als Patienten. 

In der Psychotherapie geht es viel ums Stärken. Dass man für sich einstehen darf, etwas für sich fordern darf, mal sozial unerwünscht handeln darf. Werden Menschen dadurch unbequemer für die Gesellschaft?

Das Leben ist eine Balance aus dem, was man selbst will – und was andere von einem fordern. In der Psychotherapie wird – pauschal gesagt – stark der erste Fall betont. Das kann für manche Menschen, auch für manche Generationen, ganz wichtig sein. Zum Beispiel für unterdrückte Frauen der Nachkriegsgeneration, die ganz arg gelernt haben, die Bedürfnisse anderer vor ihre eigenen zu stellen. Da war die genannte Balance verschoben – was Stresssymptome, psychosomatische Beschwerden, Depressionen und Ängste ausgelöst hat. Da ist der Ansatz des Stärkens richtig. Wenn wir aber heute eine 22-jährige Frau haben, die völlig behütet aufgewachsen ist, ist Abgrenzung der falsche Weg. Dann wird das Nicht-Kümmern um andere zum Gift für die Gesellschaft. 

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