Psychotherapie: "Es ist nicht immer notwendig, in die Kindheit einzutauchen"

Frau sitzt bei der Therapeutin auf der Couch.
Was passiert eigentlich in einer Psychotherapie – und wer sollte sie in Anspruch nehmen? Im Interview klärt Psychotherapeutin Andrea Jesser Irrtümer auf und gibt Tipps für die Therapeutensuche.

"Es braucht Mut, um den Schritt in die Psychotherapie zu machen", sagt Andrea Jesser. Dass der Gang zum Therapeuten nach wie vor häufig als Zeichen von Schwäche angesehen wird, kann die Psychotherapeutin nicht nachvollziehen. "Menschen, die eine Therapie beginnen, stellen sich der Herausforderung, sich mit eigenen Problemen auseinanderzusetzen. Das hat nichts mit Schwäche zu tun."

Die Pandemie hat aus Jessers Sicht viel verändert. "Natürlich war sie für viele mit enormer psychischer Belastung verbunden. Aber gerade dadurch ist das Bewusstsein dafür gewachsen, wie wichtig psychische Gesundheit ist – und dass es mehr Angebote im Bereich der psychosozialen Versorgung braucht", sagt Jesser, die beobachtet, dass Psychotherapie sichtbarer und präsenter im öffentlichen Diskurs geworden ist. "Ich erlebe, dass heute andere Menschen als vor der Pandemie in die Praxis kommen."

Im KURIER-Interview gibt Jesser, aktuell interimistische Dekanin der Fakultät für Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund-Freud-Privatuniversität, Einblicke in jene therapeutischen Prozesse, die psychisches Leid lindern können.

KURIER: Der Berufsverband der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten fordert seit Jahren kostenfreie Therapie für alle, die sie brauchen. Wer benötigt sie?

Andrea Jesser: Psychotherapie richtet sich an alle, die unter seelischem Leidensdruck stehen. Das kann unterschiedliche Formen annehmen, von depressiven Verstimmungen über Ängste und Zwänge bis hin zu zwischenmenschlichen Krisen. Die entscheidende Frage ist nicht, ob jemand krank genug ist, sondern, ob er das Gefühl hat, Hilfe zu brauchen. Viele warten zu lange, bevor sie Psychotherapie in Anspruch nehmen – aus Scham, oder weil die Zugangshürden zu hoch sind.

Psychotherapie sollte auch ohne Diagnose bezahlt werden?

Jede Person, die seelisch leidet, sollte Zugang haben. Menschen mit psychiatrischen Diagnosen natürlich unbedingt. Es gibt aber auch Personen in akuten Lebenskrisen, die nicht weiterwissen. Auch wenn eine Diagnose fehlt, kann Psychotherapie hilfreich sein.

Derart breit gefasst würde die Versorgung dem Staat viel Geld kosten.

Ich halte das für ein sehr sinnvolles Investment – besonders mit Blick auf junge Menschen. Viele psychische Erkrankungen entstehen im Jugendalter. Wenn sie unbehandelt bleiben, besteht die Gefahr, dass sie chronifizieren und das weitere Leben beeinträchtigen – in Schule, Ausbildung, Beruf und Beziehungen. Gleichzeitig verursachen psychische Erkrankungen enorme Folgekosten für die Gesellschaft – etwa durch Krankenstände, Frühpensionierungen oder Produktivitätsverluste. Frühzeitige psychotherapeutische Unterstützung kann viel Leid verhindern und langfristig Kosten sparen.

Wo liegt der Unterschied zu einer Behandlung beim Psychiater oder der Psychologin?

Psychiaterinnen sind medizinische Fachärztinnen, die Medikamente verschreiben können. Psychologen haben ein Studium der Psychologie absolviert und können – je nach weiterführender Ausbildung – in unterschiedlichen Bereichen tätig sein. Klinische Psychologen arbeiten diagnostisch und führen auch psychologische Behandlungen durch. Gesundheitspsychologinnen unterstützen Menschen dabei, gesundheitsförderliche Verhaltensweisen zu entwickeln oder mit chronischen Erkrankungen umzugehen. Psychotherapeutinnen haben eine eigenständige, gesetzlich geregelte Ausbildung, die sie befähigt, Menschen mit seelischem Leid durch Gespräche und verschiedene therapeutische Methoden professionell zu behandeln.

Oft glauben Menschen, dass wenn sie in Therapie gehen, auch Medikamente einnehmen müssen. Stimmt das?

Psychotherapie funktioniert auch ohne Medikamente. Aber in manchen Fällen kann es sinnvoll sein, eine medikamentöse Behandlung begleitend einzusetzen, zum Beispiel bei einer schweren Depression.

Muss man sein ganzes Leben ausbreiten, damit Psychotherapie wirkt?

Das ist ein Klischee. Viele Therapieverfahren beziehen die Lebensgeschichte mit ein, weil sie hilft, dysfunktionale oder destruktive Muster zu verstehen. Aber es ist nicht immer notwendig, tief in die Kindheit einzutauchen. Es gibt auch Therapieansätze, die lösungsorientiert im Hier und Jetzt arbeiten. 

In Österreich sind 23 psychotherapeutische Methoden anerkannt. Würden Sie Patienten raten, sich im Vorfeld zu informieren, was der jeweilige Therapeut oder die jeweilige Therapeutin anbietet?

Ja, das kann sinnvoll sein. Auf den Homepages der Therapeutinnen und Therapeuten findet man meist Angaben zu Methode und Arbeitsweise. Auch im Erstgespräch kann man klären, ob man sich mit dem Ansatz wohlfühlt.

Immer wieder heißt es, die Beziehung sei der wichtigste Wirkfaktor. Stimmt das?

Ja, das bestätigen zahlreiche Studien. Entscheidend ist, dass man sich bei der Therapeutin oder beim Therapeuten gut aufgehoben fühlt. Dass man sich öffnen kann – auch mit schwierigen oder schambesetzten Themen. Die vertrauensvolle Beziehung ist einer der wichtigsten Faktoren für den Therapieerfolg und oft das Ausschlaggebendste für positive Veränderung.

Muss eine Psychotherapie zwangsläufig Jahre dauern?

Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Es gibt Kurzzeittherapien und längere Prozesse. Wie lange es dauert, hängt von der Problemstellung, der Methode und den Zielen ab.

Wann dürfen Patienten mit Besserung rechnen?

Viele Menschen erleben schon nach wenigen Sitzungen eine erste Entlastung. Tiefgehende, nachhaltige Veränderungen brauchen aber Zeit – und die Bereitschaft, sich aktiv einzubringen. 

Haben Patientinnen und Patienten ein verklärtes Bild von Psychotherapie? 

Psychotherapie ist keine passive Behandlung, sondern ein aktiver Prozess, auf den man sich einlassen muss. Das braucht Motivation und Veränderungsbereitschaft. 

Immer wieder werden Fälle von sexuellen Übergriffen in der Psychotherapie publik. Gerade weil Psychotherapie ein Schutzraum sein soll, erscheint das besonders tragisch.

Leider kommt das immer wieder vor. Wie in anderen Berufsgruppen, wo mit Menschen gearbeitet wird, auch. Es ist wichtig, dass Betroffene sich wehren und sich nicht darauf verlassen, dass der Therapeut schon weiß, was er tut. Es gibt in Österreich den Bundesverband für Psychotherapie, der in allen Bundesländern Beschwerdestellen eingerichtet hat. Und es gibt die Patienten- und Pflegeanwaltschaft, wo man sich hinwenden kann.

Wann sollte man wechseln? 

Wenn es zu wiederholter Entwertung kommt, man sich nicht ernst genommen oder verstanden fühlt, sollte man das ansprechen. Oft lassen sich solche Themen gemeinsam klären. Wenn es zu systematischen Grenzüberschreitungen kommt, ist ein Wechsel notwendig. 

Läuft Psychotherapie immer friktionsfrei ab?

Nein – und das ist auch nicht das Ziel. Der geschützte Rahmen einer Therapie ermöglicht es, Konflikte anders zu bearbeiten als in anderen Beziehungen. Wenn in der Therapie Spannung entsteht, kann das gerade hilfreich sein – weil es frühere Beziehungsmuster sichtbar macht. Leider trauen sich viele Patientinnen nicht, solche Themen anzusprechen. Therapeuten sollten aktiv aufklären und ermutigen.

46-216662384

Andrea Jesser ist Vizedekanin an der Fakultät für Psychotherapiewissenschaft der SFU, promovierte Soziologin, Kultur- und Sozialanthropologin und eingetragene Psychotherapeutin für Katathym Imaginative Psychotherapie, mit einer Praxis in Niederösterreich.

In Gruppenpsychotherapien können psychische Probleme genauso gut beackert werden wie in Einzelsitzungen, zeigen Studien. Warum setzt man in Österreich – etwa im Vergleich zu Deutschland – so wenig auf deren gezielte Förderung?

Es fehlt in Österreich schlicht an Angeboten und Finanzierungsmöglichkeiten. Ich würde sehr gerne mehr Patientinnen und Patienten Gruppen vorschlagen, aber lokal gibt es oft keine Gruppenplätze. Es braucht gezielte Förderung und auch eine Entstigmatisierung der Gruppe. Viele Menschen haben Hemmungen, sich in der Gruppe zu öffnen.

Kann Psychotherapie unerwünschte Nebenwirkungen haben?

Ja. Psychotherapie kann dazu führen, dass belastende Themen, die man im Alltag lieber verdrängt, ins Bewusstsein rücken. Das kann eine vorübergehende Verschlechterung der Symptome oder eine emotionale Verunsicherung auslösen. Manchmal brechen auch Konflikte im Umfeld auf.

Wie ist es einzuordnen, wenn Freundschaften auseinandergehen oder die Beziehung zerbricht? 

Menschen verändern sich durch Psychotherapie und stellen destruktive Beziehungen infrage, was Auswirkungen im sozialen Umfeld hat und zu Spannungen führen kann. Das ist manchmal aber auch notwendig, um sich weiterzuentwickeln. 

Bekannt ist das Phänomen der "False Memories", sprich, Erinnerungen an Ereignisse im Rahmen der Therapie, die entweder nie stattgefunden haben oder anders erinnert werden, als sie passiert sind. Wie beugt man vor?

Erinnerung ist kein objektives Abbild der Realität, sondern eine Konstruktion. Was für den einen traumatisch ist, ist es für den anderen nicht. Therapeutinnen und Therapeuten sollten keine suggestiven Techniken einsetzen, sondern offen nachfragen. Es geht nicht um Wahrheitsfindung, sondern darum, gemeinsam zu rekonstruieren, was Menschen erlebt haben und wie sie es für sich in einen individuellen Sinnzusammenhang setzen können.

Heute treten Psychotherapeutinnen im Internet selbstbewusst als virtuelle Fachleute auf. Das abstinente Analytikerimage à la Freud scheint aufgeweicht. Eine gute Sache?

Ich finde es gut, dass Psychotherapie sichtbarer wird. Das sehe ich als Gewinn. Gleichzeitig ist es wichtig, dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bei öffentlichen Auftritten Professionalität und Rollenbewusstsein wahren. 

Online-Therapie wurde mit der Pandemie salonfähig und erst rechtlich möglich. Wird virtuelle Therapie das reale Setting ersetzen?

Es wird eher ein Nebeneinander geben. Für viele Menschen ist Online-Therapie wichtig, weil sie sonst keinen Zugang hätten. Manche Prozesse brauchen aber den gemeinsamen Raum, mit körperlicher Präsenz und unmittelbarer Resonanz. 

Auch KI-basierte Therapie-Bots werden versierter darin, Menschen aufzufangen. 

Ich erlebe tatsächlich, dass Patientinnen und Patienten solche Anwendungen nutzen und das als entlastend erleben. Aber sie können keine echte therapeutische Beziehung ersetzen. KI ist auf soziale Erwünschtheit programmiert. Echte Konflikte, die man gemeinsam durcharbeitet, treten dort nicht auf.

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