Zwangsstörung: "Am schlimmsten Punkt war ich zweieinhalb Stunden auf dem Klo"

Eine Frau sitzt mit gesenktem Kopf und hält sich die Stirn, wirkt nachdenklich oder besorgt.
Zwangsstörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Oft bleiben sie lange unerkannt. Ein verstärktes Bewusstsein in der Bevölkerung könnte frühe Diagnosen fördern, lassen Studien vermuten. Neue Hoffnungsträger gibt es auch bei Therapien.

Als Katharina (Name geändert) vor sieben Jahren eines Abends im Bett bemerkte, dass sie nochmal auf die Toilette muss, dachte sie sich nichts weiter dabei. "Am Klo habe ich realisiert, dass offenbar noch Flüssigkeit in der Blase ist", erinnert sie sich. Daran schloss sich ein für die damals 18-Jährige angsteinflößender Gedanke an: "In mir kam die Sorge auf: 'Was, wenn sich meine Blase ungewollt in der Nacht entleert?' – und so hat alles angefangen."

Aus Katharinas Verunsicherung entwickelte sich eine Zwangsstörung, die mit dem wiederholten Aufsuchen der Toilette einherging. In der Fachwelt spricht man von einer Hyperbewusstheits-Zwangsstörung, die sich unter anderem durch eine exzessive Aufmerksamkeit auf Reize aus dem eigenen Körper, etwa dem Harndrang, auszeichnet. "Am Anfang war der Zwang noch nicht so stark ausgeprägt. Am schlimmsten Punkt meiner Erkrankung war ich zweieinhalb Stunden auf dem Klo, bevor ich ins Bett gehen konnte", erzählt Katharina.

"Die Zwangsstörung ist eine der häufigsten psychischen Erkrankungen", erklärt Ulrike Demal, Klinische Psychologin und Verhaltenstherapeutin an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am AKH Wien. "Charakteristisch ist, dass sich Betroffenen unsinnige Gedanken mit belastenden Inhalten aufdrängen."

Die Gedanken können sich um Themen wie Sauberkeit, Religion, Sexualität, Ordnung oder Krankheit drehen." Bei Betroffenen lösen sie Gefühle von Angst, Ekel oder Verunsicherung aus. "Mit diesen Emotionen können Zwangserkrankte nicht gut umgehen, weswegen sie bestimmte Rituale, Zwangshandlungen, entwickeln, um die unangenehmen Gefühle zu neutralisieren", erläutert Demal, die seit vielen Jahren Patientinnen und Patienten mit Zwängen behandelt. Zu solchen Zwangshandlungen zählen etwa wiederholtes Kontrollieren, Ordnen, Waschen, gedankliches Durchgehen oder Beten.

Heimliche Krankheit

Habe ich den Herd abgedreht? Das Licht im Bad ausgeschaltet? Die Autotür zugesperrt? Solche Gedanken kennen viele aus dem Alltag. "Meist ist damit der Drang verbunden, die Ungewissheit zu beenden – also kontrolliert man", schildert Demal. Hat man keine Zwangsstörung, reicht einmaliges Kontrollieren aus. "Zwangserkrankte beginnen nach dem Nachschauen zu zweifeln an ihrer Wahrnehmung und an den ausgeführten Handlungen." In der Folge müssen Betroffene immer wieder nachkontrollieren, bis sich die Unsicherheit reduziert. "Das kann so weit gehen, dass Personen das Haus gar nicht mehr verlassen, weil sie mit dem Kontrollieren nicht fertig werden. Oder bei einem Waschzwang mehrere Stück Seife pro Tag brauchen."

Oft spricht man von der Zwangsstörung als heimliche Erkrankung. "Weil Betroffene meist lange brauchen, um sich jemandem anzuvertrauen", weiß Demal. So sei es beispielsweise für einen Menschen mit aggressiven Zwangsgedanken – bedrohliche Gedanken daran, sich selbst oder andere zu verletzen – schwierig, sich jemandem anzuvertrauen. "Betroffene schämen sich und haben Angst vor dem Urteil des Umfelds."

Auch Katharina war es lange Zeit wichtig, ihren Zwang zu verbergen. "Die ersten paar Jahre habe ich es geheim gehalten, weil es mir unangenehm war. Das hat mir paradoxerweise dabei geholfen, den Zwang im Zaum zu halten." Mit der Zeit drang der Zwang in verschiedenste Lebensbereiche vor, Katharinas Leidensdruck wuchs. "Irgendwann habe ich schon Stunden vor Spaziergängen aufgehört, zu trinken, damit ich nicht in die Situation komme, auf die Toilette zu müssen. In der Uni bin ich in jeder Pause aufs Klo gegangen. Das Fahren mit den Öffis bereitete mir oft Stress, weshalb ich lieber mit dem Fahrrad gefahren bin. Als ich zur Frauenärztin gegangen bin – die erkannt hat, dass ich kein körperliches, sondern ein psychisches Problem habe – ist es erst einmal viel schlimmer geworden."

Wenig hilfreiches Umfeld

Befeuert wurde die Belastung durch das Unverständnis, das Katharina in der Familie entgegengebracht wurde. "Meine Eltern wollten nicht wahrhaben, dass eines ihrer Kinder eine psychische Erkrankung hat. Natürlich haben sie sich auch Sorgen gemacht, aber sie konnten das leider nicht nett verpacken." Im Freundeskreis fielen die Reaktionen gemischt aus: "Manche waren unterstützend, andere haben wenig Interesse gezeigt." Zwangserkrankte stoßen im Umfeld häufig auf Unverständnis, weiß Demal. "Betroffene ernten wenig hilfreiche Kommentare wie: 'Dann reiß dich halt zusammen.' Das trägt dazu bei, dass sie sich noch stärker für ihren Zwang schämen."

Wie allen psychischen Erkrankungen liegt auch der Zwangsstörung ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren zugrunde. "Wir gehen von einem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell aus", präzisiert Demal. So spielt etwa eine familiäre Vorbelastung eine Rolle. "Bei Verwandten ersten Grades von Zwangserkrankten hat man in Studien deutlich mehr Personen gefunden, die ebenfalls an einer psychischen Erkrankung, etwa Depressionen oder Angsterkrankungen, leiden", sagt Demal. Gleichzeitig geht man davon aus, dass eine verminderte Konzentration bestimmter Neurotransmitter in gewissen Hirnarealen Zwänge auslösen und sie aufrechterhalten kann.

Zu Beginn ihrer Erkrankung war Katharina 18 Jahre alt und gerade zum Studieren nach Wien gezogen. "Ich habe das erste Mal allein gewohnt. Zusätzlich hatte ich großen Lernstress und Angst, durch Prüfungen zu fallen", erinnert sich die junge Frau. Heute weiß sie: "Stress, die Einsamkeit und meine hohen Leistungsansprüche an mich selbst waren Faktoren, die zu meiner Erkrankung beigetragen haben." Auch mit ihrer Erziehung sieht sie Zusammenhänge: "Meine Mama ist sehr sicherheitsfokussiert. Ich erinnere mich, dass sie zum Beispiel oft gesagt hat 'Geh zur Sicherheit aufs Klo, bevor du schlafen gehst'."

Überforderung mit Gefühlen

Bestimmte Lebensereignisse können einen Nährboden für die Zwangsstörung bereiten, sagt Demal: "Üblicherweise sind das Situationen, die als überfordernd wahrgenommen werden." Etwa Umzüge als Kind, eine Scheidung der Eltern, berufliche Umbrüche oder die eigene Elternschaft. "Wenn Menschen wegen nicht gut entwickelter sozialer Fertigkeiten, Problemen mit dem Selbstwert und Schwierigkeiten im Bereich der Emotionsregulation gewisse Entwicklungsaufgaben oder auch Emotionen wie Aggression, Schuld, Scham oder Ekel nicht meistern können, können sich Zwangshandlungen als dysfunktionale Bewältigungsstrategien entwickeln." Kurzfristig geben sie tatsächlich Sicherheit. "Doch der Zwang entwickelt rasch eine Eigendynamik, die nicht mehr hilfreich ist."

Studien zufolge dauert es bis zu zwölf Jahre, bis bei Zwangsstörungen die korrekte Diagnose gestellt wird. Eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung des Universitätskrankenhauses Bonn in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen und der Selbsthilfeplattform OCD Land legt jedoch nahe, dass Zwänge inzwischen früher entdeckt werden – im Schnitt schon nach sechs bis sieben Jahren. Ein Faktor dürfte das wachsende Bewusstsein sein – angetrieben durch soziale Medien. Nicht nur viele Betroffene berichten online über ihre Erkrankung. Auch Fachleute informieren immer öfter auf Plattformen wie Instagram oder TikTok über Zwänge.

Am effektivsten lässt sich die Zwangsstörung laut Forschungen mit der kognitiven Verhaltenstherapie therapieren. Ziel der Psychotherapie ist, Betroffene zu motivieren, sich in Übungen jenen Situationen auszusetzen, in denen sie große Unsicherheit spüren – und die Zwangshandlung zu unterlassen. "Sich auf eine solche sogenannte Exposition einzulassen und die dabei auftretenden Gefühle zuzulassen, ist eine riesige Herausforderung", betont Demal. Bei therapieresistenten Zwangsstörungen setzt man auf experimentelle Behandlungsansätze, etwa mit Ketamin. Die halluzinogene Substanz wird verabreicht, "um es Patientinnen und Patienten zu ermöglichen, sich auf eine Exposition einzulassen."

Katharina hat im Laufe der vergangenen Jahre verschiedene Psychotherapien ausprobiert. Aktuell ist sie in einem auf Ängste und Zwänge spezialisierten Zentrum in Behandlung. In der Therapie wird sie dabei begleitet, sich schrittweise dem Zwang zu widersetzen: "Wir machen Übungen, damit mein Gehirn lernt, dass nichts passiert, wenn ich das Klogehen hinauszögere. Das geht gut." 

Abends versucht Katharina, die inzwischen ihr Studium abgeschlossen hat, die Zeit auf der Toilette zu reduzieren. "Vor dem Schlafen bin ich momentan eine Stunde auf dem Klo. Das ist besser als früher, aber es gibt noch Luft nach oben", sagt Katharina. "Mein Ziel ist es, dass der Zwang irgendwann vollständig aus meinem Leben verschwindet. Aber ich habe gelernt, geduldig mit mir zu sein."

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