Boom der Selbstdiagnosen: Warum nicht jedes Leiden eine Störung ist

Immer häufiger werden alltägliche seelische Zustände als psychische Störungen eingeordnet.
In sozialen Medien, Podcasts, Selbsthilfebüchern und Alltagsgesprächen boomt das psychologische Vokabular – plötzlich scheint jeder eine Diagnose zu haben: ADHS, Bindungsangst, Trauma. Was einst als normales menschliches Erleben galt, wird heute immer häufiger als Störung verstanden.
Eine Entwicklung, die Fragen aufwirft: Worin wurzelt der Drang zur Selbstdiagnose? Wo verläuft die Grenze zwischen seelischem Unwohlsein und klinischer Störung? Und: Kann eine Psychotherapie auch schaden?
Ein Gespräch mit dem Psychologen Marcus Roth von der Universität Duisburg-Essen.
KURIER: In Gesprächen mit Freunden oder auf sozialen Medien wirken psychiatrische Diagnosen zunehmend gegenwärtig. Täuscht dieser Eindruck?
Marcus Roth: Seit ein paar Jahren werden psychische Störungen verstärkt thematisiert und breit definiert. Es besteht zunehmend der Wunsch, Diagnosen für sich zu beanspruchen und sie als Identifikationsmerkmale zu benutzen. Was einst als Macke galt, wird quasi zur Marke.
Psychische Erkrankungen wurden jahrhundertelang in hohem Maß tabuisiert. Woher kommt nun der Wunsch, sich damit zu "schmücken"?
Denkbar ist, dass Menschen psychiatrische Diagnosen in einer immer komplexeren Welt als Identifikations- und Zugehörigkeitshilfe nutzen. Womöglich auch vor dem Hintergrund, dass Menschen in individualistischen Gesellschaften mehr Verantwortung für sich übernehmen müssen – und eine Diagnose ein Stück weit davor schützt.
Inwiefern?
Mit der Diagnose ADHS kann man zum Beispiel sagen: "Ich kann mich nicht konzentrieren, weil ich ADHS habe." Ich muss also nichts an mir ändern. Ich denke da auch an den populären Begriff "Neurodiversität", mit dem immer mehr Menschen ihr Anderssein und ihre Defizite erklären. In der Psychologie hat er aber kaum wissenschaftliches Fundament. Wir sind alle neurodivers, weil wir uns natürlich neurobiologisch unterscheiden.
Dafür nimmt man eine Stigmatisierung in Kauf?
Die gibt es ja kaum mehr. Wenn man sich in Schulen umsieht, wird heute offen gesagt, wer was hat. Viele fühlen sich der "Hidden Disabilities"-Community zugehörig und tragen eine Sonnenblume als Zeichen für ihre unsichtbare psychische Einschränkung auf der Kleidung.
Wird der offene Umgang in allen Alters- und Gesellschaftsschichten akzeptiert?
In sozioökonomisch höher gestellten Schichten und jungen Altersgruppen finden wir das auf jeden Fall. Insbesondere auch bei Gruppen, die viel Zeit in sozialen Medien verbringen.
Viele fühlen sich Influencern stark verbunden: Wenn Blogger sich zu psychischen Erkrankungen bekennen, eifern Follower ihnen dann womöglich nach?
Davon gehe ich aus. Das kennen wir auch bei körperlichen Erkrankungen: Wenn uns jemand seine Symptome schildert, spüren wir sie auch leicht. Das ist bei psychischen Erkrankungen noch mehr der Fall, weil sie selten durch einen organischen Befund abgeklärt werden können. Wenn ich glaube, zwanghaft zu sein, kann ich mein Verhalten gut dahin gehend interpretieren.
Fragen wir uns im Hinblick auf unser Innenleben also heute öfter: Ist das noch normal?
Ja, was ein Zeichen dafür ist, dass es unserer Gesellschaft gut geht. Solche Fragen kommen nur auf, wenn alle anderen Bedürfnisse befriedigt sind. Die Sache ist: Jeder Mensch weicht von der Norm ab. Unterschiedlichkeit ist die Norm. Im Psychischen gibt es nun die Tendenz, jede Besonderheit als normabweichend und damit als gestört zu bezeichnen – auch im Bereich der Persönlichkeitseigenschaften.
Wo hört eine Akzentuierung der Persönlichkeit oder eine adäquate Reaktion auf ein Lebensereignis auf – und wo beginnt die Störung?
Dafür gibt es einen klaren Störungskatalog, der erfüllt werden muss. Wichtig, um in eine Störungskategorie zu fallen ist, dass jemand ein Verhalten oder Erleben zeigt, das es ihm verunmöglicht, beruflichen Aufgaben nachzugehen oder Beziehungen einzugehen und ihn massiv schädigt.
In manchen therapeutischen Kreisen gilt auch die Diagnose Anpassungsstörung als verpönt, dennoch wird sie nach wie vor sehr häufig vergeben. Warum?
Weil unter diese Gummi-Diagnose jeder drunter passt. Wenn jemand nach einer Trennung traurig ist, wird oft eine Anpassungsstörung diagnostiziert, obwohl keine Depressivität vorliegt und man weiß, dass der Zustand meist von selbst weggeht.
Wenn jemand eine Therapie aufsucht, gibt es aber meist Leidensdruck und eine Diagnose macht Ressourcen für die Behandlung frei …
Wenn jemand Leidensdruck und eine Diagnose hat, dann ist das staatliche Gesundheitssystem für ihn zuständig. Der Missstand, dass die Therapieplätze verstopft sind, dass die Menschen zehn bis zwölf Therapeuten anrufen, bevor sie auf eine Warteliste kommen, würde etwas abgemildert, wenn Menschen, von denen man weiß, dass ihre Leidensmomente von allein wieder weggehen, zugunsten anderer mit ernst zu nehmenden Störungen nachgereiht werden.

Marcus Roth ist ein deutscher Psychologe und Hochschullehrer für Differentielle Psychologie an der Universität Duisburg-Essen.
Depression: Wenn gedrückte Stimmung und Interessenverlust so zunehmen, dass man im Alltag deutlich beeinträchtigt ist.
ADHS: Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung beginnt im Kindesalter und kann unterschiedliche Anzeichen haben: Unaufmerksamkeit, Unruhe und Impulsivität. Bei ADHS überschreiten diese ein normales Maß.
Trauma: Manchmal erleben Menschen furchtbare Dinge, die sie noch lange verfolgen und seelisch krank machen.
Trigger: Von einem "Trigger" spricht man, wenn Menschen durch Reize von außen – Personen, Situationen oder Geräuschen etwa – von einem traumatischen Ereignis eingeholt werden.
Narzissmus: Im Kern stehen Großartigkeitsgefühle, Anspruchsdenken und Suche nach Bewunderung. Wenn Persönlichkeitsmerkmale so auffällig, starr und unflexibel werden, dass sie das Leben stark beeinträchtigen, wird die Schwelle zur Störung überschritten.
Versorgung: In Österreich steht pro Jahr eine gewisse Anzahl an voll finanzierten Psychotherapieplätzen zur Verfügung. Die Wartelisten sind oft lang. Der Berufsverband der Psychotherapeuten fordert seit Jahren eine Anhebung der Kontingente.
Diagnosen scheinen im Wandel. Computerspielsucht ist inzwischen offiziell eine Krankheit. Ist der Blick auf das, was normal ist, auch in der Wissenschaft laufender Diskussion unterworfen?
Natürlich gehen mit einer veränderten Welt auch veränderte Störungsbilder oder ganz neue Diagnosen einher. Unter Laien werden die Grenzen zwischen psychischen Erkrankungen und alltäglichen Leiden aber leider immer ungenauer gezogen.
Zeigt sich das auch darin, dass Begriffe wie "Trigger" oder "Trauma" im Alltag zunehmend beliebig gebraucht werden? Jemand, der egozentrisch aufritt, ist schnell ein Narzisst.
Ja. Plötzlich hat jeder mit einem toxischen Narzissten zu tun. Wir verwenden psychologische Termini oder denken uns welche aus, die fachmännisch klingen, wie etwa auch hochsensibel. Es gibt immer Diagnosen, die besonders en vogue sind. Vor 30 Jahren war das die Borderline-Störung, jetzt ist Narzissmus im Kommen. Ein Trauma ist aber kein negatives Erlebnis, sondern immer etwas Tiefgreifendes. Mit dieser Inflation wird man denen nicht gerecht, die die Störung tatsächlich haben.
In gewissen gesellschaftlichen Blasen hat man den Eindruck, dass der Gang zur Therapeutin oder zum Therapeuten cool geworden ist. Ist es nicht erfreulich, dass das Tabu rund um psychisches Leid aufbricht?
Das ist ein sehr erfreulicher Zustand. Die Mental-Health-Kompetenz ist deutlich gestiegen. Mehr Menschen erkennen bei sich und anderen Warnsignale für psychische Störungen. Allerdings habe ich im Fernsehen auch schon die Aussage gehört, dass es gut wäre, jeder würde mal eine Therapie machen.
Und was halten Sie davon?
Wer keine psychische Störung hat, braucht keine Therapie. Dem hilft sie auch gar nicht. Natürlich kann jeder zum Therapeuten gehen, auch wenn er keine Diagnose hat – aber dann muss er sie selbst bezahlen.
Kann Psychotherapie auch unerwünschte Nebenwirkungen haben?
Ja, derjenige, der an der Psychotherapie teilnimmt, verliert möglicherweise ein Stück seines Selbstwirksamkeitsgefühls. Wenn man wegen Liebeskummer zum Therapeuten geht, geht die Trauer weg. Das wäre ziemlich sicher auch ohne Therapie passiert, nur bleibt der Eindruck, dass man aus der Lebenskrise nur mit Therapie herausgekommen ist. Vielleicht wäre es schöner, zu wissen, man wäre aus eigener Kraft rausgekommen. In einer Therapie werden oft Fässer aufgemacht, die gar nicht aufgemacht werden müssen. Und Fässer, die es gar nicht gibt. Es gibt das Phänomen der False Memory, wo Ereignisse in der Therapie aktiviert werden, die so gar nicht stattgefunden haben. Auf diese Nebenwirkungen würde ich mich nur einlassen, wenn der erwartete Gewinn größer ist als der potenzielle Schaden, wie bei einem Medikament auch.
Heute treten Psychotherapeutinnen und -therapeuten im Internet selbstbewusst als Fachleute mit Aufklärungsanspruch auf. Stützt das Selbstdiagnosen?
Der Eindruck, man sei psychisch krank, kann sich durch solche Beschreibungen verstärken. Ich finde es aber prinzipiell gut, wenn es solide Aufklärung im Internet gibt. Man kann das Internet nutzen, um leichtere Fälle durch niedrigschwellige Angebote abzufangen.
Immer wieder heißt es, psychische Erkrankungen seien auf dem Vormarsch. Muss Psychotherapie staatlich stärker gestützt werden?
Wer krank ist, soll Therapie bezahlt bekommen. Die Prävalenz psychischer Erkrankungen ist in den vergangenen Jahren stabil geblieben.
In der Corona-Pandemie gab es etliche Befunde zur Zunahme der Belastungen.
Es haben sich zu der Zeit sicherlich mehr Menschen psychologische Hilfe gesucht. Das kann aber auch andere Gründe haben, zum Beispiel, weil die Menschen mehr Zeit hatten, vielleicht auch, weil es mehr Störungen gab – aber dieser Beleg fehlt.
Was würden Sie sich für einen Umgang mit psychischen Erkrankungen wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass Menschen mit ernsten Erkrankungen eine Therapie bekommen. Aber, dass sie nicht hochstilisiert werden.
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