Die 10.000-Schritte-Regel auf dem Prüfstand: Das sagen Sportmediziner.
Neue Daten zeigen immer detaillierter die vielen positiven Wirkungen von Bewegung und Sport. Aber nicht alles, was an Behauptungen kursiert, hält einem Faktencheck stand.
Ob ein Spaziergang im Park, eine Runde Joggen oder ein intensives Krafttraining:Bewegung ist ein essenzieller Bestandteileines gesunden Lebensstils. Wer sich regelmäßig körperlich betätigt, stärkt nicht nur seine Muskeln und Ausdauer, sondern tut auch seinem Geist und Immunsystem etwas Gutes. Das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung hat ergeben: Wer mindestens 150 Minuten Bewegung bei mittlerer Anstrengung schafft – etwa durch zügigeres Gehen –, kann sein Risiko für zahlreiche Erkrankungen reduzieren – besonders solche des Herz-Kreislaufsystems wie Bluthochdruck, Diabetes Typ II oder auch Übergewicht.
Zunehmend wird aber auch deutlich, dass körperliche Aktivität nicht nurpräventiv gegen viele Erkrankungen wirkt, sondern auch bestehende gesundheitliche Probleme lindern oder sogar heilen kann. Zudem werden durch sportliche Betätigung wichtige Botenstoffe ausgeschüttet, die nicht nur die Stimmung verbessern, sondern auch das Gehirn leistungsfähiger machen.
"In vielen Fällen kann sogar ein hohes individuelles genetisches Risiko für eine bestimmte Krankheit durch einen aktiven Lebensstil deutlich gesenkt werden", sagt die Sportmedizinerin Prim. Dr. Andrea Podolsky, Leiterin des Instituts für Präventiv- und Angewandte Sportmedizin am Uni-Klinikum Krems. Und zwar zumindest auf das Niveau von jemandem mit einem geringen genetischen Risiko, aber einem sehr ungesunden, bewegungsarmen Lebensstil.
Sportmediziner räumen auf bei Bewegungsmythen
Doch während die positiven Effekte längst wissenschaftlich belegt sind, halten sich viele Missverständnisse rund um das Thema Bewegung. Wie viel braucht es wirklich, um gesund zu bleiben? Ist Muskelkater ein Zeichen für effektives Training? Und ist Ausdauertraining wichtiger als Krafttraining?KURIER lebenist mit renommierten Gesundheits-Experten gängigen Mythen auf den Grund gegangen.
„Fitte, gut trainierte Menschen haben im Vergleich zu Unfitten ein um 70 Prozent verringertes Risiko frühzeitig zu versterben. Bei regelmäßig körperlich aktiven Menschen – die nicht unbedingt sehr trainiert sind – ist das Risiko immerhin noch um 50 Prozent niedriger, also halbiert“, betont Podolsky.
Der Durchschnittsösterreicher verbringt seine letzten 20 Jahre nicht mehr in Gesundheit, vor allem Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht und die dadurch bedingten Folgeerkrankungen lassen die Lebensqualität deutlich sinken.
von Dr. Robert Fritz
zur Gesundheit von Österreichern
Eine Langzeitstudie mit 8.000 ehemaligen US-Olympiateilnehmern zeigte: "Im Schnitt leben sie um fünf Jahre länger als die Normalbevölkerung." Bewegung verlängert nicht nur die Lebenszeit, sondern verbessert vor allem die Lebensqualität, betont Sportmediziner Dr. Robert Fritz von der Sportordination in Wien. "Der Durchschnittsösterreicher verbringt seine letzten 20 Jahre nicht mehr in Gesundheit, vor allem Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht und die dadurch bedingten Folgeerkrankungen lassen die Lebensqualität deutlich sinken. Dabei zeigen Studien eindeutig, dass regelmäßige Bewegung entgegenwirken kann", sagt Fritz.
100 Jahre alt werden zu können, bringe nicht viel, wenn man die letzten 20 nicht genießen könne, meint er. Schon Kinder und Jugendliche sollten mit regelmäßiger Bewegung beginnen – das heißt eine Stunde täglich, etwa im Freien spielen, turnen und Sportarten ausüben. Eltern komme eine Vorbildfunktion zu. Sie sollten die Freude an Bewegung vorleben, sagt Fritz.
Wahrheit 2: Bewegung verbessert die Gedächtnisleistung
Wer sich regelmäßig bewegt, verfügt über eine bessere kognitive Leistungsfähigkeit, zeigen Studien. "Hier dürften verschiedene Effekte eine Rolle spielen", erklärt Podolsky. Etwa eine bessere Durchblutung des Gehirns, die durch Bewegung angeregte Produktion von Nervenwachstumsfaktoren, die zu neuen Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen führen, eine bessere Stressverarbeitung sowie verschiedene hormonelle Einflüsse.
Beide Experten betonen dabei die Bedeutung der Myokine. "Das sind hormonähnliche Botenstoffe, die von der Muskulatur bei Bewegung ausgeschüttet werden und neben dem Herzkreislaufsystem und dem Stoffwechsel auch direkt auf die Hirnsubstanz wirken", sagt Fritz. „Sie wirken unter anderem entzündungsdämmend, viele andere positive Effekte sind aber noch nicht im Detail erforscht“, so Podolsky.
Zudem kann Sport dabei helfen, den Kopf freizubekommen und Blockaden abzubauen. Fritz: „Wenn man nach einem anstrengenden Tag, an dem viele Informationen auf einen eingeprasselt sind, eine Runde laufen geht oder einen anderen Sport ausübt, tut das unheimlich gut. Die Wirkung ist vergleichbar mit dem Neustart eines Computers – unser überladenes Gehirn bekommt neue Ressourcen und man kann sich auf das konzentrieren, was wichtig ist“, sagt Fritz.
Diese Aussage stimmt vor allem für niedrigintensive Bewegung sowie Krafttraining. Körperliche Aktivität sorgt für eine bessere Durchblutung und damit für die Zirkulation von Immunzellen. Krankheitserreger werden schneller erkannt und bekämpft. Zudem sorgt Bewegung für eineReduktion von Stresshormonen wie Cortisol, die das Immunsystem schwächen können.
Sportliche Menschen sind tatsächlich weniger krank. Das gilt allerdings nicht, wenn man zu intensiv Sport treibt
von Dr. Robert Fritz
zur Auswirkung von Sport auf das Immunsystem
Ebenfalls förderlich für das Immunsystem ist die entzündungshemmende und schlaffördernde Wirkung von Bewegung. "Sportliche Menschen sind tatsächlich weniger krank. Das gilt allerdings nicht, wenn man zu intensiv Sport treibt", sagt Fritz. Jemand, der gerade mit Sport beginnt und gleich drei Mal pro Woche intensiv laufen geht, überfordere seinen Körper und kann so das Immunsystem schwächen. Fritz: "Das kennt man auch aus dem Profisport. Nach einem Wettkampf ist das Immunsystem geschwächt und man ist infektanfälliger. Hochintensives Training oder Übertraining kann die Infektanfälligkeit kurzzeitig steigern. Dem entgegen wirken Trainingspausen, ausreichend Erholung und eine ausgewogene Ernährung."
"Diejenigen, die sportlich gar nichts tun und diejenigen, die extrem viel tun, haben eine schlechtere Immunfunktion – grafisch entspricht das einer u-förmigen Kurve", unterstreicht Podolsky. "Wobei mit 'extrem viel' alles gemeint ist, was jemand nicht gewöhnt ist: Also etwa auch untrainiert im Urlaub plötzlich jeden Tag fünf Stunden wandern gehen, wenn man sich im Alltag sonst kaum bewegt."
Wahrheit 4: Sport verringert das Risiko für Depressionen
"Es gibt sehr gute Hinweise, dass körperliche Aktivität depressive Verstimmungen verbessern kann. Bei Depression unterstützt Bewegung als additive Therapie", erklärt Fritz. Körperliche Aktivität hat nachweislich positive Effekte auf die psychische Gesundheit. Einerseits wird das Glückshormon Serotonin freigesetzt, gleichzeitig kommt es zu Stressabbau und Entspannung.
Zudem fördert Bewegung die Selbstwahrnehmung und soziale Interaktion, z. B. bei Teamsport oder Gruppentraining, und hilft gegen Einsamkeit. "Große Studien haben gezeigt: Diejenigen, die körperlich aktiv sind, haben weniger Tage, an denen sie sich schlecht und depressiv fühlen", sagt Podolsky. Wer sich regelmäßig bewegt, senke zudem sein Risiko für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Demenz, so Fritz.
Wahrheit 5: Bewegung stabilisiert die Gelenke
"Wer lange inaktiv war und dann zu trainieren beginnt, klagt oft über Knie- oder Hüftschmerzen“, weiß Podolsky. Kurzfristig belastet bei Untrainierten körperliche Aktivität die Gelenke. "Aber durch die Verbesserung der Muskelfunktion gewöhnt sich der Körper daran und langfristig werden die Gelenke entlastet und durch die verbesserte Muskelkraft stabilisiert."
Viele denken, dass Gelenke durch Bewegung abgenutzt werden, aber das Gegenteil ist der Fall, betont auch Fritz: Ohne Bewegung werden die Gelenke anfälliger. Zudem verbessert körperliche Aktivität die Durchblutung und reduziert die Wahrscheinlichkeit von Übergewicht, das besonders für Knie- und Hüftgelenke problematisch sein kann. "Bewegung tut den Gelenken gut. Das gilt aber nur, wenn keine Gelenkserkrankungen vorliegen und man sich nicht überlastet oder falsch belastet. Krafttraining hilft, Muskeln aufzubauen", erklärt Fritz.
Bestehen Gelenkserkrankungen, sollte ein Arzt hinzugezogen werden, bevor man mit Sport beginnt. Falsche oder zu hohe Belastung entsteht etwa durch harte Stöße, speziell, wenn Untrainierte bergab laufen. Laufen schadet den Gelenken aber prinzipiell nicht.
Mythos 1: Es sollten 10.000 Schritte am Tag sein
Im Schnitt gehen die Österreicher täglich 5.351 Schritte. Die 10.000er-Marke zu erreichen, ist gar nicht so einfach, aber auch nicht notwendig. "Es gibt keine wissenschaftliche Grundlage für diese Zahl und auch keine derartige absolute Grenze", sagt die Sportmedizinerin Dr. Andrea Podolsky. „Ein positiver Gesundheitseffekt stellt sich schon viel früher ein – für ältere Menschen sind bereits 6.000 bis 7.000 Schritte sehr effektiv.“
Es kommt zudem darauf an, wie die Schritte zurückgelegt werden, sagt Sportmediziner und Marathonarzt Dr. Robert Fritz. „Der Weg im Büro zum Kopierer oder in die Küche ist nicht mit einem Spaziergang oder sportlicher Aktivität gleichzusetzen“, so Fritz. Man sollte versuchen, möglichst viel Ausdauertraining in den Alltag zu integrieren – das kann der Weg in die Arbeit, ein Spaziergang in der Mittagspause oder Stiegensteigen statt Liftfahren sein.
Besser als Schritte zu zählen, seien die Minuten pro Woche. Das optimale Fenster, wo man mit dem geringsten Aufwand den größten gesundheitlichen Nutzen erziele, liege zwischen 150 und 300 Minuten Ausdauerbewegung pro Woche in moderater Intensität, also etwa ein bisschen ein flotteres Gehen. Ist man schneller unterwegs, etwa als Jogger, dann sollten es zumindest 75 bis 150 Minuten sein, zitiert Podolsky die WHO-Bewegungsempfehlungen. Neben Ausdauer sollte auch Krafttraining eingebaut werden, Fritz empfiehlt ein- bis zweimal pro Woche.
Denn: Bereits ab dem 30. Lebensjahr kommt es zu einem Muskelabbau, der ab dem 50., 60. Lebensjahr spürbar wird. „Trainiert werden sollten die großen Muskelgruppen, etwa mit Kniebeugen oder Rückenübungen“, rät Fritz.
Mythos 2: Muskelkater ist ein Zeichen für ein effektives Training
„Nein, er ist eine Reaktion auf eine Belastung – üblicherweise 24 bis 48 Stunden danach –, die der jeweilige Muskel nicht kennt und nicht gewöhnt ist“, sagt Sportmedizinerin Podolsky. „Kleine Strukturen in den Muskelzellen werden dadurch verletzt. Die Schmerzen sind ein Symptom einer Entzündung, bei der verletzte Strukturen abtransportiert und die Zellen repariert werden.“ Wenn man mit bestimmten Bewegungen beginnt, ist die Chance, einen Muskelkater zu bekommen, wesentlich größer. Aber über die Effektivität des Trainings sagt das nichts aus: „Ich habe früher Profi-Radfahrer betreut. Einmal konnte eine Radfahrerin nach dem Tennisspielen vor Schmerzen mehrere Tage nicht radeln – diese Belastung war für sie einfach ungewohnt, sie bekam – obwohl durchtrainiert – einen Muskelkater.“
Die kleinen Muskeleinrisse heilenfolgenlos aus. „Kommt es auch mehrere Wochen, nachdem man mit neuen Bewegungen begonnen hat, immer wieder zu Muskelkater, sollte man mit einem Trainer oder Sportmediziner darüber sprechen – Sport soll nicht wehtun“, betont Fritz.
Mythos 3: Krafttraining ist wichtiger als Ausdauertraining
"Ist Schreiben wichtiger als Rechnen – oder umgekehrt? Nein, Sie brauchen beides, und das gilt auch für Kraft- und Ausdauertraining", unterstreicht Podolsky. Regelmäßiges Krafttraining macht die Muskelzellen dicker und erhöht die Kraft des Muskels.Ausdauertraining hingegen verbessert den Stoffwechsel der Muskelzellen. Sie können mehr Energie aus der Nahrung – etwa Zucker – in Energie für die Muskelkontraktion umsetzen. Das erhöht die Ausdauerbelastung und hat einen positiven Einfluss auf den Blutzuckerspiegel und die Blutgefäße. Mehr Muskelmasse durch Krafttraining verstärkt diesen Effekt.
"Wenn sich jemand nur einmal pro Woche zusätzlich Zeit nehmen kann, würde ich ihn eher ins Krafttraining schicken und dazu raten, die Ausdauer in den Alltag einzubauen, etwa öfter das Rad zu nehmen. Wir brauchen aber beides, Kraft und Ausdauer."
Mythos 4: Ein nennenswerter Kalorienverbrauch beginnt erst nach 30 Minuten
„Wenn Sie beginnen rascher zu gehen, um etwa den Bus zu erreichen, erhöht sich sofort Ihr Energieverbrauch, nicht erst nach 30 Minuten“, betont Podolsky. „Wenn Sie Fettzellen im Bauch reduzieren wollen, müssen Sie einfach mehr Energie verbrauchen als Sie zuführen, also ein Energiedefizit erreichen.“ Bei geringer Belastung verbrennt der Körper Fettsäuren in den Muskelzellen, bei hoher Belastung Glukose (Zucker). "Für das Abnehmen ist es aber nicht so wichtig, was in der Muskelzelle verbrannt wird, da geht es immer um das Energiedefizit. Und dabei hilft auch jede noch so kurze Alltagsbewegung."
Man brauche also nicht Angst zu haben, dass ein 10- bis 15-minütiger Spaziergang keinen Effekt habe, sagt auch Robert Fritz. „Je länger man sportelt, desto besser ist es natürlich für den Kalorienverbrauch. Kurze Einheiten sind aber nicht sinnlos – gesundheitliche Effekte hat man auch nach einem täglichen kurzen Spaziergang.“ Wer fitter werden möchte, etwa bei einer Wandertour mehr Ausdauer haben und sich steigern möchte, brauche längere und intensivere Trainingseinheiten. „Leistungssteigerung wird nicht durch 10 bis 15 Minuten niedrig intensiver Belastung erreicht. Aber jede Bewegung ist besser als gar keine“, so Fritz.
Mythos 5: Bereits nach 10 Minuten Bewegung sollte man das erste Mal trinken
„Das ist Unsinn“, sagt Podolsky. "Wer normal ernährt ist und vor dem Sport getrunken hat, kann sich auf jeden Fall mindestens eine Stunde bewegen, ohne etwas zu trinken." Und danach ist Wasser ausreichend: "Kohlenhydrate, etwa in Form eines gespritzten Fruchtsaftes, sind erst nach eineinhalb Stunden durchgehender Ausdauerbewegung sinnvoll." Wann man als Hobbysportler zur Trinkflasche greift, ist jedem selbst überlassen.
"Bei einer Belastungsdauer von einer Stunde sollte man trinken, wie es einem guttut", empfiehlt Fritz. "Erst bei Trainingseinheiten, die länger als eine Stunde dauern, oder bei sehr intensiven Belastungen sollte man auf die Flüssigkeitszufuhr bewusst achten und kann zwischendurch auch eine Banane oder einen Proteinriegel essen oder ein Sportgetränk trinken", rät Fritz.
Jemand, der sehr viel schwitze, habe einen höheren Flüssigkeitsbedarf als jemand, der weniger schwitzt. "In diesem Fall und auch generell bei großer Hitze sind bei einer Belastung von eineinhalb und mehr Stunden Elektrolytgetränke empfehlenswert", erläutert Podolsky. "Eine banale Methode, den Flüssigkeitsverlust festzustellen, ist, sich vor der Sportausübung und danach auf die Waage zu stellen. Die Differenz zeigt den Flüssigkeitsverlust an und man sollte das Eineinhalbfache über den Tag verteilt wieder zuführen", sagt Fritz. Für Hobbysportler, die etwa eine Stunde sporteln, sei das allerdings nicht notwendig.
Kommentare