Alzheimerforschung: "In den nächsten fünf Jahren wird sich was tun"
Es gibt bereits Medikamente, die eine beginnende Demenz bremsen – aufhalten können sie den Krankheitsverlauf aber nicht. Bisher.
Prof. Elisabeth Stögmann leitet die Demenzgruppe an der MedUni Wien und ist guter Dinge, dass es in den nächsten fünf Jahren große Fortschritte geben wird. Im KURIER-Interview gibt sie einen Überblick über den Status quo in der Behandlung und spricht darüber, wie viel Freude am Leben Betroffene noch haben.
KURIER: Schätzungen zufolge sind in Österreich etwa 140.000 Menschen von einer Demenz betroffen – was läuft denn am häufigsten schief?
Elisabeth Stögmann: Die Zahlen sind ungenau, weil die Demenzdiagnosen derzeit nicht gut erfasst werden, aber man versucht das zu verbessern. Prinzipiell neigen Patienten und Patientinnen dazu, zu spät zum Arzt zu gehen. Es ist oft nicht einfach die Krankheit von einer normalen Altersvergesslichkeit – die ja bis zu einem gewissen Grad normal ist – zu unterscheiden. Dazu kommt, dass Symptome gerne verleugnet oder heruntergespielt werden, weil das Thema noch immer tabuisiert ist.
Studien haben gezeigt, dass schon Gedächtnisschwierigkeiten ab 50 Jahren ein früher Hinweis auf eine spätere Demenz sein können. Ab wann sollte jemand zum Arzt und zu welchem?
Wenn etwas häufig passiert, also wenn ich oft Dinge vergesse, mir immer wieder Termine nicht merke oder Sachen, die ich besprochen habe und mir merken wollte, nicht merke. Oder wenn ich sehr häufig Sachen verliere und immer mehr suche und suche. Oder auch, wenn ich bei der räumlichen Orientierung Probleme bekomme, Wege nicht mehr so gut finde wie früher. Wenn diese Dinge immer wieder passieren und von meinen Angehörigen auch beobachtet werden, dann würde ich auf jeden Fall zu einer Abklärung gehen: Man kann primär zum Allgemeinmediziner gehen und wenn er das bestätigt, dann würde man zum Facharzt für Neurologie oder Psychiatrie gehen.
Im fortgeschrittenen Stadium sprechen Angehörige oft davon, dass sie kaum noch etwas von dem früheren Menschen erkennen: Wie sehr leiden die Betroffenen selbst? Haben sie trotzdem Freude am Leben?
Das hängt sehr vom Stadium ab. Ich sehe Patienten mit leichter kognitiver Störung, die Probleme mit dem Gedächtnis, mit der Aufmerksamkeit oder mit der Sprache haben, aber im Alltag noch relativ selbstständig sind. Das ist dann eine frühe Stufe und geht über in eine milde und weiter in eine schwere Demenz. Das ist ein Zeitablauf von etwa 10 Jahren, teilweise länger. In der leichten Phase ist es so, dass diese Patienten sich noch sehr wohlfühlen und gutes Leben führen. Teilweise sind da auch die Angehörigen noch nicht so belastet. Es ist schwierig für sie, weil Einsicht fehlt oder die Patienten nicht zum Arzt wollen. Oft entstehen auch Spannungen, weil die Betroffenen sich denken, alles ist gut und die Angehörigen sehen das ganz anders. Oft gibt es in diesem Stadium schon emotionale Schwankungen, die den Patienten verändern. Auch das kann auf der Beziehungsebene etwas verändern. Manche sind depressiver, launischer oder einfach anders.
Neben der Herausforderung Betroffene zu pflegen, ist die emotionale Belastung für die Angehörigen besonders hoch: Was hilft ihnen?
Das offene Gespräch mit anderen, sich Rat bei Ärzten zu holen und die Diagnose zu sichern. Es hilft der Familie, dass man weiß, woran man ist. Dazu gehört der Austausch mit Ärzten, um zu klären, wie die Lage eingeschätzt wird und wie es weitergeht. Dann profitieren Angehörige natürlich von Selbsthilfegruppen – da gibt es sehr gute für Betroffene als auch für Angehörige. Sie profitieren außerdem vom offenen Gespräch mit Freunden – je mehr man es in seinem Umfeld sagt, desto einfacher wird es auch für die Familien. Diese Tabuisierung im Freundeskreis oder im Familienumfeld stresst zusätzlich.
Bei der Alzheimer- und Demenzforschung hört man immer wieder von neuen Ansätzen und revolutionären Therapien. Roche und Biogen mussten erst kürzlich Rückschläge einstecken: Welche Therapien können Betroffene aktuell erwarten?
Vor allem für die Alzheimer-Demenz, also die häufigste Form der Demenz gibt es seit etwa 20 Jahren schon zwei Substanzklassen. Diese Medikamente werden verschrieben und haben auch Nutzen, aber sie können den Krankheitsverlauf nicht komplett aufhalten. Sie sind sogenannte symptomatische Therapien und keine ursächlichen, kausalen Therapien.
Jetzt versucht man seit vielen Jahren Medikamente zu entwickeln, die den Kern der Erkrankung behandeln. Hier sind in den letzten Jahren sehr viele Rückschläge passiert und man hat immer wieder große Frustrationen erlebt, dass Substanzen in Studien nicht positiv nachweisbar wirksam waren. Der letzte große Rückschlag war mit Aducanumab von Biogen, das in den USA schon von der FDA zugelassen wurde, aber nicht von der EMA in Europa. Da hat man sich viel erwartet. Die Wirksamkeit war aber nicht komplett klar und es gab ein Nebenwirkungsprofil, das Sorge bereitet hat.
Im kommenden Herbst werden wieder Wirksamkeitsstudien von zwei Substanzen erwartet, wo man wieder darauf hofft, dass die eine oder andere eine signifikante Wirksamkeit im Sinne eines Aufhaltens des kognitiven Verfalls zeigt. Das wissen wir erst im Herbst bis hin zu Jahresende.
Mehr als jede dritte Demenzerkrankung kann mit einem gesünderen Lebensstil vermieden werden. Ist das etwas, das Betroffene rückblickend bereuen?
Also 60 Prozent des biologischen Hintergrundes einer Demenz ist schon genetisch bedingt. Und etwa 40 Prozent fallen unter beeinflussbare Risikofaktoren: Das beginnt mit Bildung im frühen Lebensalter, kognitiver Aktivierung bis ins höhere Alter, körperlicher Aktivität und Sport. Dazu gehören auch gesunde Ernährung, soziale Aktivität – also nicht einsam und zurückgezogen leben, sondern gute Kontakte zu halten. Und es gehört auch dazu, vaskuläre Risikofaktoren wie Bluthochdruck oder Diabetes gut zu behandeln. Wenn man diese insgesamt 12 modifizierbaren Risikofaktoren konsequent gut behandelt, dann glaubt man bis zu 40 Prozent der Demenzen weltweit verhindern zu können.
In einkommensstarken Ländern wie Österreich steigen die Zahlen zwar, aber nicht in dem Maße wie man eigentlich befürchtet hat. Das liegt daran, dass wir hier schon einen sehr guten Lebensstil führen, ein sehr gutes Gesundheitssystem haben und dass hier auch mehr auf gesunden Lebensstil geachtet wird. In einkommensschwächeren Ländern läuft das wesentlich schlechter und die werden eine besondere Zunahme dieser Erkrankungen erleben.
Die gute Nachricht ist also, wir sind in Österreich auf einem guten Weg?
Naja, es könnte immer besser sein. Es wäre Potenzial drinnen, wenn jeder ab 40 oder spätestens mit 50 auf einen gesunden und selbstverantwortlichen Lebensstil achtet – auch hinsichtlich Herz-Kreislauf- und onkologischer Erkrankungen.
Wie viel steckt hinter Mythen, dass es früher weniger Demenz gab?
Warum Demenzen zunehmen, hat vor allem mit der demographischen Entwicklung zu tun: Wir werden immer älter. Das ist eine Errungenschaft unseres Gesundheits- und Sozialsystems. Dadurch erleben wir auch häufiger solche Erkrankungen des Alters wie auch Herzkrankheiten oder onkologische Erkrankungen. Demenz ist eine der häufigsten Erkrankungen des menschlichen Alters und durch die ältere Gesellschaft sehen wir das auch öfter. Außerdem wurden früher wurden Demenzen auch weniger diagnostiziert, ältere Menschen durften öfter einfach vergesslich werden. Heute gibt es sicher mehr Bewusstsein dafür, da hat sich im gesellschaftlichen Bild viel verändert.
Unsere Gesellschaft wird immer älter – Schätzungen zufolge wird sich die Zahl der Betroffenen in einigen Jahren verdoppeln. Sind wir gerüstet?
Nein, wir sind nicht gerüstet und es kommen große Herausforderungen auf uns zu: Einerseits gibt es jetzt keine ausreichende Frequenz von allgemeinmedizinischer und fachärztlicher Versorgung und man muss damit rechnen, dass mehr Menschen mit kognitiven Störungen zu Ärzten gehen. Da haben wir sicher derzeit zu wenig. Und wenn wir an spätere Stadien denken, haben wir das Pflege- und Versorgungsthema.
Corona war auch immer wieder Thema in Zusammenhang mit Demenz: Weiß man schon, ob und welchen Einfluss Covid auf Erkrankungen hat?
Corona hat durch die Reduktion der sozialen und körperlichen Aktivität zu Verschlechterung bei vielen älteren Menschen geführt. So kenne ich Menschen, die gehen zum Beispiel jeden Tag zum Mittagessen ins Wirtshaus ums Eck oder in die Seniorenresidenz, haben dort ein Kartenspiel oder einen Tanzkurs – das fiel ja alles von heute auf morgen weg. Ebenso fielen viele unterstützende Behandlungen wie Ergotherapie oder Physiotherapie aus. Das war in der ersten Welle sicher am deutlichsten und wurde dann besser. Aber das hat für viele sicher zu großen Schwierigkeiten geführt.
Wie viel Hoffnung haben Sie, dass Alzheimer und Demenz in absehbarer Zeit geheilt werden können?
Mit der frühen und exakteren Diagnose hat sich viel verbessert. Auch mit der Therapieentwicklung ist man besser geworden. Ich hoffe und glaube, dass sich in den nächsten fünf Jahren etwas tun wird. Ich sage nicht, dass wir dann alles heilen können, aber ich könnte mir vorstellen, dass es dann positive Therapiestudien und einen Anfang geben wird. Ich glaube nicht, dass es dann ein Medikament gibt, mit dem wir alle Demenzen heilen, denn es wird wieder alles viel komplizierter sein. Aber es wird zumindest eine Substanz geben, die zusätzlich positiv beitragen kann.
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