Unterschätzte Meisterleistung: Die Entwicklung der Schrift
In der Stadt Uruk, wo weitreichende politische Entscheidungen getroffen werden und Kultur auf fruchtbaren Boden fällt, geht der Regierungsbeamte routiniert seiner Arbeit nach: Auf der weichen, etwa reisepassgroßen Lehmtafel zeichnet er mit einem Holzstab einen umgekippten Krug und setzt daneben einen Kreis mit einem Kreuz darin. Seitlich fügt er vier Kerben hinzu. Vor rund 5.200 Jahren erledigte der Beamte so die Bestandsaufnahme: vier Bier, vier Schafe.
Dass es sich dabei um einen für die Menschheitsgeschichte spannenden Moment handelte, war dem fleißigen Beamten sicher nicht bewusst. Aber im alten Mesopotamien stand das einfache Zeichen- und Bildsystem kurz davor, in eine komplexere Schrift überzugehen. Es zeigt, wie weit schon damals die Fähigkeit zum abstrakten Denken entwickelt war.
Denn die Paarung aus Sprache und Schrift ist längst nicht so selbstverständlich, wie man heute meinen könnte. Um Gesprochenes niederschreiben zu können, musste der Mensch dafür erst die entsprechenden Satz- und Schriftzeichen quasi aus dem Nichts herbeizaubern.
Höhlenforschung
Um die Entwicklung der Schrift nachverfolgen zu können, muss man aber noch weiter in der Zeit zurückreisen. Ein guter Anfangspunkt: die Höhlenmalereien aus der Steinzeit. Hier stößt man längst nicht nur auf einfache Tierdarstellungen.
„Auf Felsen oder Knochen tauchen auch abstrakte Zeichen auf“, erklärt Sachbuchautor und Journalist Martin Kuckenburg, der sich im Studium intensiv mit Vor- und Frühgeschichte sowie Urgeschichte und Völkerkunde auseinandersetzte. „Sie ähneln den Scribbles, wie wir sie heute gerne unbewusst beim Telefonieren machen.“
Wissenschafter entdeckten aber auch Linien, die sehr gezielt in den Fels gesetzt wurden. Was sie dabei nicht mehr eruieren können, ist, was diese Zeichen einst bedeuteten. „Eine Vermutung ist, dass es zum Beispiel Versuche gab, ein System zu entwickeln, um die Mondzyklen zu bestimmen“, so Kuckenburg.
Auch die berühmte Höhle von Lascaux, die erst im Jahr 1940 entdeckt wurde, versucht dem Betrachter etwas zu erzählen: Auf den Felswänden finden sich geheimnisvolle Bildkompositionen – etwa ein Mann mit Vogelkopf, der vor einem verwundeten Bison zu Boden sinkt. „Diese Bilder beziehen sich wahrscheinlich auf Legenden und Mythen. Es ist eine symbolhafte Bildsprache, die damals ein Schamane sicher verstanden und weitererzählt hätte, aber für uns zum unlösbaren Rätsel geworden ist“, erklärt Kuckenburg. „Das alles deutet darauf hin, dass der Mensch schon zwischen 30.000 und 10.000 vor Christus Zeichen zum Zählen und Erzählen benutzte.“
Auf Felsen oder Knochen tauchen auch abstrakte Zeichen auf. Sie ähneln den Scribbles, wie wir sie heute gerne beim Telefonieren machen.
Im Lauf der Zeit wird sich die Malerei verändern: Die flächigen Bilder gehen stärker in Linien über. Immer mehr Strichmännchen bevölkern die Höhlenwände. Gerade die Fähigkeit, bewegte Motive wie jagende Menschen und Tiere auf so reduzierte Art und Weise darzustellen, zeigt, wie weit das abstrahierte Denken des Menschen zu dieser Zeit schon fortgeschritten ist.
Die Frage, welche Kultur als erste eine Schrift entwickelte, ist nicht einfach zu beantworten.
So werteten manche Archäologen die Zeichen, die auf Orakelknochen im chinesischen Henan (ca. 6600 v. Chr.) gefundenen wurden, als ersten Beleg einer Schrift. Das Problem: Diese Zeichen tauchen bisher immer nur isoliert auf, was die These einer Schrift umstritten macht. Ähnliches gilt für die südeuropäische Vinča-Schrift (ca. 5500 v. Chr.). Dass die Schrift mit der Keilschrift in Mesopotamien (um 3300 v. Chr.) ihren eigentlichen Anfang nimmt, ist die derzeit gängigste Meinung. Wobei sich diese ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den altägyptischen Hieroglyphen liefert. Zwischen ihrer Entwicklung liegen wohl nur Jahrzehnte. Neue Erkenntnisse verändern ständig das Bild.
Erst in den vergangenen Jahrzehnten hat die Forschung erkannt, dass die Hieroglyphen im Gegensatz zu Mesopotamien, wo die Schrift jahrhundertelang „nur“ Dienste in der Buchhaltung und Verwaltung leistete, schon früh zur Aufzeichnung historischer Ereignisse verwendet wurden.
Die Debatten zeigen vor allem eines: Geht es um die Errungenschaft der Schrift, wird gerne um Anerkennung und Prestige gestritten.
Ein weiteres, wichtiges Rädchen, das die Entwicklung der Schriftzeichen vorantreiben soll, setzt sich im vierten Jahrtausend vor Christus in Bewegung. Im alten Orient entstehen die ersten Städte und Handelszentren.
Sitzenbleiber
Die Ägypter errichten Adari und Memphis, die Semiten Babylon und Siuppar, die Sumerer Ur und Uruk. Es sind alles Zivilisationen, die den Übergang von der reinen Bilder- zur Zeichenschrift gemeistert haben.
„Dieses zeitliche Zusammentreffen ist kein Zufall, denn ohne Schrift wären die Hochkulturen mit ihrer neuartigen gesellschaftlichen Organisation und Lebensweise gar nicht möglich gewesen“, erklärt Kuckenburg. Mit der Sesshaftigkeit wird auch der Handel wichtiger.
Parallel dazu verkomplizieren sich die Aufgaben der Stadtverwaltung. An der Professionalisierung führt kein Weg vorbei: „In Mesopotamien war um 3000 vor Christus die Buchhalter-Schrift etabliert. Sie ist auf Tausenden Tontäfelchen erhalten geblieben. Über einen Zeitraum von 300 Jahren findet man Auflistungen von Waren-Kategorien wie Wolle oder Seide“, so Kuckenburg. „Beim Schaf gibt es schon eine Ausdifferenzierung: Es existiert ein Zeichen für weibliche Tiere, Böcke und Lämmer.“
Die Schrift ist hier noch auf einen spezifischen Funktionsbereich und im Wortschatz auf Güter des täglichen Bedarfs beschränkt: „Erzählungen und Gebete werden wahrscheinlich noch mündlich weitergegeben. Erst später werden etwa die Taten von Herrschern auf Palastwänden festgehalten.“
Der Fund war 1799 eine Sensation: Der Stein von Rosette aus dem Jahr 196 v. Chr. zeigt einen Text in drei Schriftsystemen (Altgriechisch, Demotisch, ägyptischen Hieroglyphen) – und war für die Entzifferung der Hieroglyphen bahnbrechend.
Wobei sich zunächst viele Wissenschafter vergeblich bemühten. Ihr Fehler: Sie gingen davon aus, dass das komplexe System der Hieroglyphen auf einer reinen Bilderschrift beruhte.
Erst 1822 (also mehr als zwei Jahrzehnte später) konnte der französische Sprachwissenschaftler Jean-Francois Champollion mit seinen Forschungsergebnissen in die richtige Richtung weisen. Seit 1802 befindet sich der Stein im British Museum in London.
In der Zeit um 2500 vor Christus geht die Buchhalterschrift allmählich in die sumerische Keilschrift über. Sie gilt heute als Urform der europäischen Schriften. Mit ihr erreichte die Ausdruckskraft völlig neue Höhen. Die entscheidende Errungenschaft ist das Prinzip der Phonetisierung:
Es gibt nicht mehr nur Piktogramme – etwa für Bier oder Schaf –, sondern Zeichen, die Sprachlaute darstellen. „Die ältesten Aufzeichnungen aus Uruk, in denen jedes Wort durch ein eigenes Bildzeichen dargestellt wird, erfordern eine große Anzahl unterschiedlicher Zeichen und bleiben dennoch in ihrer Ausdrucksfähigkeit beschränkt, weil viele Wörter und abstrakte Begriffe sich nur schwer durch bildhafte Symbole ausdrücken lassen“, bemerkt Kuckenburg.
Zunächst versucht man diesen Nachteil auszugleichen, indem man bestimmte Zeichen auch zum Ausdruck sinnverwandter Begriffe heranzieht: „So bezeichnet etwa das Keilschriftzeichen für Fuß auch die mit diesem Körperteil verbundenen Tätigkeiten des Gehens und Stehens“, so der Experte.
Durch die Darstellung von Sprachlauten, die sich unendlich kombinieren lassen, vergrößert sich die Ausdrucksfähigkeit der Schrift nach und nach. Die bis dahin auf einzelne Worte basierte Schrift verlagert sich damit auf die Darstellung von Silben.
Vor allem die Phönizier sind federführend. Sie entwickeln das Schriftsystem weiter und verdrängen damit die alte und an das Ende ihres Potenzials gekommene Keilschrift. Die weitere Reduktion bis hin zum heute vertrauten Buchstabensystem ist dann nur mehr eines: eine Frage der Zeit.
Buchtipp „Eine Welt aus Zeichen: Die Geschichte der Schrift“ von Martin Kuckenburg, Verlag Konrad Theiss, ca. 41 €
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