Genetiker Markus Hengstschläger: Keine Angst vor der Zukunft
Es war ein Experiment mit einem der renommiertesten Wissenschaftler Österreichs: Der Genetiker Markus Hengstschläger war der erste Gast bei einer neuen Interviewform von KURIER–Herausgeber Helmut Brandstätter: Ein drei mal zwei Meter großes Doppelporträt Hengstschlägers, das Oskar Stocker angefertigt hatte, war Ausgangs- und immer wieder Bezugspunkt des Gesprächs vor mehr als 200 Besuchern im Odeon in Wien. Der KURIER dokumentiert die wichtigsten Passagen.
Helmut Brandstätter: Wir sind seit langem per Du und wollen hier keine Schmähs machen. Das Erste: Gefällst du dir?
Markus Hengstschläger: Ich habe Oskar Stocker gesagt, wenn ich so aussehen würde, wie auf den Bildern, wäre ich sehr zufrieden. Es ist alles drinnen, was ich von mir kenne. Vor allem der linke Teil, mit dem Blick nach unten und dem leichten Verzweifeln, weil ich wieder irgendetwas nicht verstehe. Mein ganzes Leben lang begleitet mich dieser Blick nach unten, meistens sogar mit ein bisschen einem offenen Mund, vom Staunen gegenüber den biologischen Dingen.
Sind das auf den Bildern Sorgen- oder Denkerfalten?
Es könnte sein, dass ich vor 30 Jahren weniger Sorgen gehabt habe .... Was für mich im linken Bild auch steckt, ist etwas, was viele Menschen nicht sehen: Man verbringt als Wissenschaftler oft viele Stunden mit Analysen und Auswertungen und steht dann oft vor einem nicht interpretierbaren oder gar keinem Ergebnis. Das ändert aber nichts an der Begeisterung für die Wissenschaft.
Ich sehe zwei Typen auf den Bildern: Den Forscher, der tagelang in einem Labor steht und verzweifelt ist, wenn er auf etwas nicht draufkommt. Und den unterhaltsamen Typ, der Genetik so erzählen kann, dass es jeder versteht. Das ist doch selten?
Vor 20, 30 Jahren war es das noch. Aber heute muss man als Vorstand eines Instituts auch erklären können, was man mit den Forschungsgeldern tut. Und wir müssen Menschen, die gar keine genetische Grundkenntnis haben, Befunde für genetische Erkrankungen erklären.
Das Institut für Medizinische Genetik der MedUni Wien ist international führend – und das in einer revolutionären Phase der Genetik.
Unser Institut betreut Patienten, macht genetische Befunde, bildet Studenten und Fachärzte aus und betreibt universitäre Grundlagenforschung. Diese stellt Fragen, ohne gleich automatisch nachdenken zu müssen, wie setzen wir das am Markt als Innovation um. Ich empfinde das als ein enormes Privileg. Wir erleben gerade in Nachbarländern, dass Universitätskolleginnen und -kollegen vor die Tür gestellt werden, weil sie nicht den Vorstellungen der Politik entsprochen haben. In Österreich sind die Bedingungen für Grundlagenforschung im Bereich der Lebenswissenschaften – etwa Biochemie, Genetik, Molekularbiologie – sehr gut.
Wenn man sich mit Genetik beschäftigt, kommt man immer auch zu unserem Äußeren.
Unser Aussehen ist wahrscheinlich der Bereich, der am stärksten genetisch bestimmt ist. Aber das ist nur ein ganz kleiner Teil dessen, was den Menschen ausmacht. Beim wirklich wichtigen Teil – alles, was uns zum Menschen macht –, spielen Gene nur eine relativ geringe Rolle. Wenn man sich ansieht, was Menschen gefällt, ihren Geschmack, dann ist dieser so unterschiedlich, dass es nicht einen gemeinsam vorgegebenen genetischen Rahmen dafür geben kann.
Der genetische Unterschied zwischen mir und einem Menschen aus Nigeria kann kleiner sein als zwischen uns beiden.
Die optischen Merkmale – das was wir an einem Menschen sehen –, sind nur in einem ganz kleinen Teil unserer genetischen Information festgelegt. Im größeren anderen Teil können die Unterschiede viel umfangreicher sein: Und es ist auch aus biologischer Sicht nicht zielführend zu sagen, für diese oder jene Population sei dies oder das typisch, und das sei genetisch festgelegt. Deshalb ist auch das Rassenkonzept beim Menschen – das an äußeren Merkmalen festgemacht wurde – nicht haltbar gewesen.
Aus der genetischen Information unserer vier Großeltern entsteht jeder Mensch. Machen die Gene unsere Talente?
Gerade beim Thema Begabung darf man den Menschen nicht auf seine Gene reduzieren. Sie spielen eine Rolle, aber bedeutender sind die Erziehung, das Lernen und Vorbilder. 0,1 bis 0,2 Prozent der Erbsubstanz sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich – diese individuellen genetischen Leistungsvoraussetzungen haben einen Einfluss. Aber sie sind nichts wert, wenn wir die Begabung nicht entdecken und durch fortwährendes Üben daraus eine besondere Leistung machen. Wir haben aber bei dem Begriff von Talent und Begabung etwas zugelassen, was ich sehr schlimm finde, dass er diskriminierend verwendet wird.
Wenn wir über Elina Garanca oder Lionel reden, sind wir uns alle einig: Talente. Aber warum sind wir uns bei ihnen so sicher, dass wir den Talentbegriff anwenden können, und bei anderen nicht? Und er ist erstens lokal und auch zeitmäßig eine Modeerscheinung.
Wenn wir Menschen in Afrika erzählen, „Marcel Hirscher ist ein Riesentalent“, und diese uns fragen, was er kann, wir daraufhin sagen, „wir stecken Stöcke in den Schnee und er fährt am allerschnellsten durch“, würden sie uns nur anschauen. Und wenn wir Lionel Messi ins alte Rom transferieren und er vor einem Imperator steht, der ihn fragt, „was kannst du?“ – „ich kann einen Lederball in ein Netz schießen wie kein anderer“ – was hätte der Imperator gesagt?
Warum ich das erzähle: Erst wenn wir es zusammenbringen zu sagen, dass ein Mensch, der ein Leben lang andere Menschen pflegt, ein mindestens so großes Talent ist wie ein Fußballspieler, dann dürfen wir den Begriff wieder verwenden.
Die Gesellschaft bewertet Messi höher als die Pflegerin, aber wir brauchen weniger Messis. Talent hat ganz schnell etwas mit erstrebenswert, mit cool zu tun. Wir müssen es hinkriegen zu sagen: Jeder Mensch in Österreich kann Elite sein, jeder in anderen Bereichen, und jeder kann etwas Besonderes. Jeder kann aus dem Durchschnitt herauskommen, jeder woanders, der eine in seiner sozialen Kompetenz, der zweite in einem Handwerk, der dritte im Sport – das ist völlig egal. Wir dürfen nur nicht diskriminieren. Und da viele Entwicklungen unvorhersehbar sind, wäre es gut, möglichst breit aufgestellt zu sein.
Du hast auch eine Ethikkommission angeregt, die sich mit den Auswirkungen der Digitalen Revolution befassen und eine gesellschaftliche Diskussion initiieren soll.
Mein Beweggrund, warum wir uns mit diesen Themen wie Künstliche Intelligenz, Robotereinsatz, und die umfassende Digitalisierung der Industrie beschäftigen müssen ist auch der, wirklich dafür Sorge zu tragen, dass hier niemand übrig bleibt – ganz egal, ob Daten stimmen, wonach bis etwa 2030 vielleicht 50 Prozent der heutigen Jobs nicht mehr existieren könnten. Viele sagen ja, das wird nicht das Problem sein, dafür kommen andere Berufe. Die Politik will diese Idee eines Ethikrates aufgreifen – er wird kommen.
Du hast das in einem KURIER-Interview gefordert ...
... ja, und weil du mir jetzt die Tür zu dem Thema Medien geöffnet hast: Ich habe sehr oft das Gefühl, dass es ausreicht, damit eine Geschichte auf die Titelseite einer Tageszeitung kommt, wenn sie uns Angst vor der Zukunft macht: Brexit, Migration, Terrorismus, Trump. Aber diese Angst ist die größte Bremse, wenn es um Talentförderung oder Innovationen für die Zukunft geht.
Ich nehme da einen Unterschied wahr: Ray Kurzweil, einer der großen Vordenker bei Google, will den Menschen unsterblich machen. Elon Musk arbeitet an dem Konzept, ab 2025/2030 Menschen zum Mars zu schicken. Und Craig Venter, der als einer der ersten Menschen ein gesamtes menschliches Erbgut entschlüsselt hat, spricht von künstlich geschaffenem Leben. In Europa gibt es oft die Haltung: Unsterblich? „Unmöglich“. Leben am Mars? „Nein“. Künstliches Leben? „Glaube ich auch nicht.“.
In den USA gehen diese Menschen mit ihren Firmen einfach einmal los – auch mit dem Risiko, „vielleicht komme ich dort gar nie an“, aber sie gehen los. Und das steigert die Wahrscheinlichkeit für etwas, was wir in der Wissenschaft „Serendipity“ nennen: Dass man etwas entdeckt, was man nicht gesucht hat. Viele großen Entdeckungen auf dieser Welt sind nicht gesucht worden, sondern man hat sich auf den Weg gemacht, und links und rechts davon etwas gefunden.
Im Bereich der Genetik: Was ist heute schon möglich? Was darf man verändern?
Österreich hat ein vorbildhaftes Gentechnik- und Fortpflanzungsmedizingesetz. So darf niemand zu einem Gentest gezwungen werden, um etwa einen Job zu bekommen. Verboten sind auch Eingriffe in die Keimbahn eines Menschen – also Veränderungen am Erbgut etwa im Zuge einer künstlichen Befruchtung, die dazu führen, dass ein Mensch geboren wird, den wir designt haben. Wovon ich aber ein glühender Anhänger bin: Bei einem Menschen, der eine bestimmte Erkrankung hat, lokal an gewissen Teilen seines Körpers genetische Veränderungen vorzunehmen, um eine Heilung zu erreichen.
Im Unterschied zu einem Eingriff in die Keimbahn wird bei einer solchen „somatischen Gentherapie“ diese Veränderung nicht an die nächsten Generationen weitergegeben. In der Vergangenheit waren gentherapeutische Eingriffe auch ziemlich erfolglos. Mit der Genschere CRISPR/Cas9 sind genetische Veränderungen schnell und gezielt möglich. Diese Technologie sollte aber nicht für Eingriffe an Embryos angewandt werden.
Aber gibt es Labors auf der Welt, wo bereits in das Gengut eingegriffen wird und so ein ganz anderes Wesen entsteht?
Es ist wichtig festzustellen: Es ist viel weniger möglich als man glaubt. Bei den meisten unserer Veranlagungen spielen eine Unmenge an Genen und ihre Wechselwirkungen untereinander und mit der Umwelt eine Rolle – und da haben wir vieles noch nicht verstanden. Bei so unglaublich vielen Möglichkeiten an Wechselwirkungen wird uns vieles noch lange verschlossen bleiben. Es gibt Labors, die sich mit „Genome Editing“ – gezielten Veränderungen der DNA – an Embryos befassen – um grundsätzlich zu sehen, ob das funktioniert. Aber meines Wissens wurde ein solcher Embryo noch nie einer Frau eingesetzt.
Du hast erwachsene Kinder – wie siehst du auf die nächste Generation? Als Vater – oder auch als Genetiker?
Wir wollen immer gerne in der nächsten Generation etwas wiederfinden, was uns gefällt. Das ist aber ein grundsätzlicher Fehler. Wir wissen heute, dass es die nächste Generation nicht so machen wird wie wir – gottseidank –, und dass wir es nicht so gemacht haben wie Generation vor uns. Wir können unglaublich viel lernen von der nächsten Generation, wie sie denkt und wie sie Probleme angeht. Und seien wir ehrlich: Sie wird auch so manche Probleme lösen müssen, die wir ihnen eingebrockt haben.
Zur Person: Genetiker von Weltruf
Markus Hengstschläger
Jahrgang 1968, promovierte mit 24 Jahren zum Doktor der Genetik; mit 35 Jahren wurde er zum Professor für Medizinische Genetik an der MedUni Wien berufen. Er ist Mitglied des Rates für Forschung und Technologieentwicklung und stv. Vorsitzender der österreichischen Bioethikkommission. Mit seiner Forschungsgruppe konnte er u. a. nachweisen, dass das Fruchtwasser Stammzellen enthält. Einem breiten Publikum wurde er durch seine Bücher „Die Macht der Gene“, „Endlich unendlich“ sowie „Die Durchschnittsfalle“ bekannt.
Zur Person: Gefragter Porträtmaler
Oskar StockerJahrgang 1956, studierte Wirtschaft, promovierte in Mathematik und war jahrelang freier Unternehmer, bevor er sich nur der Kunst widmete. Das Doppelporträt (Mischtechnik auf Leinwand) ist drei mal zwei Meter groß. „Ein doppeltes Porträt war mir wichtig, um die verschiedenen Seiten von Hengstschläger darstellen zu können: Den nachdenklichen Studierenden und den offenen, global agierenden Manager des Wissens.“ International bekannt wurde er durch die Serie „Facing Nations“: 124 großformatige Porträts Menschen unterschiedlicher Nationalität aus Graz.
Vorschau auf das nächste Gespräch
Im Herbst spricht KURIER-Herausgeber Helmut Brandstätter mit Schlomo Hofmeister, dem Gemeinderabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Der genaue Termin wird noch bekannt gegeben.
Kommentare