Steuern wir unser Hirn oder umgekehrt?

Steuern wir unser Hirn oder umgekehrt?
Erinnerung, Schmerz, Gefühle. Wie wir uns Dinge am besten merken und Gedanken am besten beeinflussen können.
"Mit der Zeit nimmt die Seele die Farbe deiner Gedanken an." Marc Aurel

Das kennt jeder Mensch: Oft erinnert man sich erst an seinen Bankomat-Code, wenn man direkt vor dem Automaten steht. Weil der Körper beim Erinnern an den Code eine wesentliche Rolle spielt. Und weil das Gehirn kein starres Organ, keine nüchterne Schaltzentrale ist. Gottfried Kranz, Neurologe an der MedUni Wien, vergleicht es mit Ton, der ständig formbar ist. "Indem wir unser Gehirn verwenden, verändern wir es permanent", so Kranz bei einem Vortrag für das Wr. Viktor Frankl Zentrum.

Auch in unserer Sprache sind Metaphern über die Plastizität des Gehirns tief verwurzelt: Jemand ist formbar, er wurde geprägt, man ist beeindruckt. Kranz nennt Faktoren, die auf die Formbarkeit des Gehirns wirken: Zum einen kommt es auf die Stärke des Drucks an – "Emotionen beeinflussen den Eindruck im Gehirn". Außerdem zählt die Häufigkeit – je öfter eine Information aufgenommen wird, desto mehr Eindruck hinterlässt sie. Und wieder der Vergleich mit Ton: Der braucht die optimale Menge Wasser, um nicht zu erstarren, aber auch nicht zu zerlaufen – allerdings ändert sich der benötigte Wassergehalt mit der Zeit. Auf das Gehirn umgelegt: "Die Formbarkeit nimmt im Laufe des Lebens ab, aber auch über den Tag. Wir lernen neue Sprachen oder ein Instrument schwerer, wenn wir älter sind." Nicht zuletzt orientiert man sich beim Formen an vorhandenen Strukturen – das Gehirn merkt sich neue Informationen am besten, wenn sie in Bezug zu etwas Altem stehen. "Niemand merkt sich alle Äpfel, die er je gesehen hat, sondern jeder hat zum Apfel ein Urbild im Kopf."

Wer sich mit der Ton-Metapher schwertut, kann das Gehirn auch mit dem Internet vergleichen: "Webseiten, die oft besucht werden, haben eine hohe Bedeutung, weniger besuchte Seiten eine geringere."

Wie wichtig der Körper für die Erinnerungsfähigkeit des Gehirns ist, konnten Forscher in Studien belegen. So ist bekannt, dass Sprachen am besten multisensorisch gelernt werden – der Bewegungssinn ist dabei am wirkungsvollsten. Wenn man sich etwas merken will, sollte die rechte Hand zur Faust geballt werden – zum Abrufen ballt man die linke Faust. Kranz erklärt den Hintergrund: "Merken und Erinnern funktionieren asymmetrisch."

Botox-Experiment

Ein Experiment mit Botox zeigt eindrucksvoll, wie stark Mimik und Gehirn zusammenhängen: Frauen, die eine Spritze in die Sorgenfalte zwischen die Augenbrauen bekommen haben, brauchten in dem Experiment länger, um negative Sätze zu verstehen. Das lag aber nicht etwa daran, dass sie dümmer waren, betont Kranz: "Wir benötigen unseren Körper, um zu fühlen." Positive Inhalte konnten sie sofort verstehen, doch wegen des Botox konnten sie die Stirn nicht mehr runzeln und brauchten länger, um negative Informationen zu verarbeiten.

Bleibt die Frage, wer die Gestaltung des Gehirns in der Hand hat. "Die fokussierte Aufmerksamkeit ist wesentlich. Sie entscheidet, welcher Eindruck bei uns etwas verändert", sagt der Neurologe und zieht als Beispiel einen Städtetrip heran: "Einer achtet auf alles Schöne, der andere auf alles Kaputte – das bewirkt eine unterschiedliche Plastizität im Gehirn."

Ähnlich sei es beim Schmerzempfinden, etwa bei Rückenschmerzen: "Einer ist trotzdem sozial aktiv, hat einen erfüllenden Job, ein gutes Familienleben. Der andere ist arbeitslos und lebt sozial isoliert – das hat starken Einfluss auf die Wahrnehmung des Schmerzes. Als Neurologen raten wir Patienten, negative Gedankenkreise sein zu lassen – das verändert strukturell etwas im Gehirn."

Wer sein Gedächtnis formbar halten will, sollte außerdem jeden Tag kleine Dinge anders machen. Dazu gehört etwa, sich nicht auf Handy und Computer zu verlassen. "Geräte nehmen uns immer mehr das Denken ab." Untersuchungen mit Kindern hätten gezeigt, dass es nach kurzer Zeit nicht mehr förderlich sei, mit digitalen Medien zu lernen. "Multisensorisches Lernen ist effektiver. Genauso wie jede Art von Spiel intelligenter macht als ein intelligenter Spielfilm."

Kranz fasst zusammen: "Unser Gehirn entscheidet, wie wir werden und wir beeinflussen die Entwicklung des Gehirns." Er zitiert Talmud: "Achte auf deine Gedanken, denn sie werden dein Schicksal."

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