Wenn Kinder ihre Lebensfunktionen drosseln

Sie ziehen sich nicht nur zurück, sie zeigen keine Reaktion: Flüchtlingskinder.
In Schweden fallen Flüchtlingskinder in einen komaähnlichen Zustand, nachdem sie über die Abschiebung informiert wurden. Sie schalten ihr Notprogramm ein, sagt Kinderpsychologe Gutschi.

Im Dezember 2015 erfährt Georgi, dass seine Familie aus Schweden abgeschoben werden soll. Der damals Elfjährige sieht sich den Bescheid der Behörde an, geht in sein Zimmer und schließt die Augen. Am nächsten Morgen weigert er sich, das Bett zu verlassen, zu essen und zu sprechen. Innerhalb einer Woche verliert er massiv an Gewicht und muss künstlich ernährt werden. Der Junge hat sich von der Welt losgelöst und ist in einen komaähnlichen Zustand gefallen. Georgi ist zu einem "Apathischen" geworden.

Seit Jahren untersuchen schwedische Behörden – allen voran Psychologen und Soziologen – das sogenannte Resignation Syndrome (RS) oder Uppgivenhetssyndrom. Hunderte Flüchtlingskinder aus ehemaligen jugoslawischen und sowjetischen Staaten sind seit Anfang der 2000er Jahre daran erkrankt, nachdem ihre Familien darüber informiert wurden, dass sie in ihr Herkunftsland abgeschoben werden sollen.

Außerhalb des skandinavischen Landes wird von der Krankheit, die seit 2014 als neuer Diagnosegegenstand anerkannt ist, kaum Notiz genommen. Der österreichische Psychologe Christian Gutschi erklärt im KURIER-Gespräch, dass die "Apathischen" vermutlich ein Notprogramm einschalten.

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KURIER: Herr Gutschi, Sie arbeiten seit Jahren mit traumatisierten Kindern. Ist Ihnen ein RS-Fall schon mal begegnet?

Christian Gutschi: Nein, in Österreich ist mir kein Fall bekannt, auch in Mitteleuropa habe ich noch nichts davon gehört oder gelesen. Die klassischen Reaktionen auf traumatische Erlebnisse sind vor allem einmal Schock und in der Folge der Verarbeitungsphase dann hauptsächlich Hilflosigkeit, Schuldgefühle, Ängste, aber auch Wut und Nicht-Wahrhaben-Wollen. Viele kommen dann nicht mehr aus dem Zimmer, ziehen sich zurück, brechen plötzlich in Tränen aus. Aber dass ein Kind Tage oder Wochen in einen komaähnlichen Zustand fällt, ist ungewöhnlich.

Offenbar tritt diese Krankheit nur in Schweden und nur bei bestimmten Flüchtlingskindern auf. Ist es für Sie vorstellbar, dass sie kulturell bedingt ist?

Absolut. Ich erinnere daran, dass es in Asien zum Beispiel so gut wie gar keine ADHS-Diagnosen gibt – während in den USA 20 Prozent der Kinder davon betroffen sind. Freilich gibt es auch unruhige Kinder in asiatischen Ländern, aber sehr selten wird ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom diagnostiziert. Dass in Schweden ausschließlich Flüchtlingskinder mit bestimmten soziokulturellen Merkmalen am Syndrom leiden, bestätigt nur den Zusammenhang zwischen Kulturkreis und Krankheit.

Wie erklären Sie sich diese Reaktion der Kinder?

Ohne wissenschaftliche Befunde ist es ein wenig schwierig, es könnte sich aber um eine bestimmte Verarbeitungsform eines dramatischen Erlebnisses handeln - Flucht oder Krieg zum Beispiel. Wir kennen diese Reaktion in einer ähnlichen Weise bei depressiven Menschen. Sie schrauben ihre Lebensfunktion zurück und kapseln sich ab. Sie sind schon noch am Leben, aber sie können sich mit der Situation, in der sie sich befinden, nicht mehr auseinandersetzen.

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Im Fall Schwedens scheint es aber deutlich extremer als ein Rückzug zu sein.

Ich dachte zuerst an den Totstellreflex im Tierreich. Wenn eine Maus mit der Katze nicht mehr auskommt, stellt sie sich tot. Das ist die einzige Chance zu überleben. Es ist ein relativ einfaches Notprogramm, aber oft die einzige Möglichkeit zu überleben. Auch die Kinder scheinen plötzlich umzuschalten und alle Funktionen runterzufahren. Tief versteckt wäre vielleicht der Wille da, etwas zu tun, aber es geht einfach nicht.

In Sozialen Medien stellt schon mal wer die Behauptung auf, Flüchtlingskinder täuschen etwas vor, um nicht abgeschoben zu werden.

Nein. Über so einen langen Zeitraum? Und Kinder? Das halte ich für ausgeschlossen. Kinder können kaum etwas vortäuschen, kleinere schon gar nicht und Jugendliche nur im begrenzten Rahmen. Die Traumatisierung ist eine grundlegend tiefe Reaktion und der Totstellreflex funktioniert über das Stammhirn. Sowas ist natürlich, darüber denkt man nicht nach. Es wird eine Handlung gesetzt.

Vor welchen Herausforderungen stehen Psychologen, wenn Kinder auf einmal "abschalten"?

Ich kann mir gut vorstellen, dass die schwedischen Kollegen ziemlich überfordert sind. Die Ursachen des Syndroms sind noch nicht zur Gänze bekannt. Uns sind bereits Grenzerfahrungen von Flüchtlingskindern bekannt. Oft geht es um die pure Existenz. Sie stellen sich die Frage, ob man unter diesen Bedingungen überhaupt noch weiterleben kann.

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Wie gehen Sie als Kinderpsychologe vor?

Ich muss extrem vieles ausprobieren. Wichtig ist, Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten, die Kinder zu begleiten, einfach präsent zu sein. Man muss ihnen das Gefühl geben, dass das Leben weitergeht. Emotionen wie Schmerz, Trauer, Verzweiflung, Wut müssen aber zugelassen werden. Das Kind darf das ausleben. Es passiert leider sehr oft, dass Familien sehr schnell zum Alltag übergehen und die Traumatisierung des Kindes stecken bleibt. Jahre später taucht sie dann wieder auf.


Zur Person: Christian Gutschi ist als klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe im Krisenzentrum "Die Brücke" (Niederösterreich) tätig. Zu seinen Spezialgebieten gehört die Kinderpsychologie.

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