Schweden, wo drückt der Schuh?
Es ist sonnig auf Orust, der lebhafte Wind drückt die Temperatur aber unter zehn Grad. "Im Frühling ist es super hier. Eigentlich kann man alles machen: hiken, laufen oder einfach nur auf einen Kaffee gehen", erzählt Thjorven, die auf der viertgrößten Insel Schwedens lebt.
Thjorven ist 27 Jahre alt, arbeitet in einem kleinen Büro für Wirtschaftsbeziehungen und unterhält sich in ihrer Freizeit gerne mit Menschen, die sie nicht selten mitten in der Nacht am Wochenende anrufen. "Ich hebe schon ab, ich mach es ja freiwillig", sagt sie dem Fremden am anderen Ende der Leitung.
Botschafter des Landes
Die Anrufe spätnachts haben einen Grund: Seit Anfang April kann man Schweden über eine eigene Telefonnummer erreichen. Die hat der schwedische Touristenverband (Svenska Turistföreningen) zum 250. Jahrestag des schwedischen Gesetzes zur Pressefreiheit (Tryckfrihetsförordningen) freigeschaltet. "Unsere Bürger sollen die Botschafter des Landes sein", sagt Johanna Murray vom Touristenverband im KURIER.at-Gespräch. Sie nennt es ein "unzensiertes Bild von Schweden".
Seit Beginn der Telefonnummernaktion haben sich mehr als 20.000 Schweden registriert. Mit einer eigenen App nehmen sie täglich mehrere Tausend Anrufe entgegen und sprechen mit Menschen über Schweden - oder was einem sonst noch einfällt.
Janssons frestelse statt Köttbullar
Und es ist wirklich sehr einfach. Wer +46 771 793 336 anruft, wird zunächst von einer automatischen Stimme mit "Calling Sweden. You will be connected with a random Swede, somewhere in Sweden" begrüßt. Sekunden später tönt ein "Hallå?" aus dem Hörer und das Gespräch kann beginnen. Man stellt sich vor, das Thema ergibt sich. Thjorven unterhält sich gerne über ihre Arbeit und Urlaub (sie war bereits in Österreich - Ski fahren natürlich).
Die 27-Jährige erzählt, dass Menschen, die anrufen, für gewöhnlich nach dem Wetter, Sehenswürdigkeiten oder nach dem Eurovision Song Contest fragen, nach der schwedische Küche oder ABBA. Danach hat auch KURIER.at gefragt: Im Winter ist es kalt, vor allem im Norden, sagt Hong, ein 58-jähriger Lkw-Fahrer, der das Gespräch kurz unterbrochen hat, um am Straßenrand anzuhalten. Vom Eurovision Song Contest hält der Schwede mit pakistanischen Wurzeln eher wenig. "Dieses Jahr werde ich hingehen, eine Journalistin aus Lettland hat mir zwei Karten geschenkt. Vielleicht gewinnen wir ja."
Über die typisch schwedische Hausmannkost sagt der 53 Jahre alte Michael aus Växjö, dass er am liebsten Janssons frestelse – ein Auflauf mit Kartoffeln, Zwiebeln, Anschovis und Sahne – isst, "und nicht Köttbullar". Der Entertainer, der seinen ersten Anruf von Jugendlichen, die auf dem Weg zu einer Party in London waren, erhalten hat, lebt für die Musik. Was hält er von der Popband ABBA? "Die berühmteste Band hier ja, aber nicht die beste", sagt er. "Wir haben jede Menge guter Gruppen. Hoffe, das wissen auch die ABBA-Fans."
Ein Land mit hoher Lebenszufriedenheit
Jeder kann Schweden anrufen und die schwedischen Bürger können sagen, was sie von ihrem Heimatland halten. Das lässt die Vermutung nahe, dass Schweden nichts zu verbergen hat, keine Geheimnisse, die dem nordischen Land schaden könnten. Warum auch? Nach OECD-Erkenntnissen haben Schweden eine sehr hohe Lebenszufriedenheit, sind mit der Zivilgesellschaft und der Umweltpolitik zufrieden. Doch gerade in Zeiten, in denen viele europäische Länder mit der stärksten Migration seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert sind, ermöglicht die Telefonnummer einen anderen Blick auf Schweden zu werfen, einen etwas differenzierteren.
Nach Angaben der Statistiska centralbyrå, den statistischen Zentralamt von Schweden, sind mehr als 1,6 Millionen Menschen außerhalb des Landes geboren - die meisten im benachbarten Finnland (156.000). Das macht ein Sechstel der Gesamtbevölkerung (9,7 Millionen) aus. Hinzukommen rund 160.000 Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr um Asyl angesucht haben. Damit hat das nordische Land gemessen an der Bevölkerung die meisten Flüchtlinge zu betreuen - noch vor Deutschland und Österreich.
Von Rechtspopulisten und Flüchtlingen
Das Land ist damit überfordert. Die Regierung hatte im November wieder Grenzkontrollen eingeführt, seit Jänner müssen auch alle Zug- und Busunternehmen die Identitäten der Passagiere festhalten, die über die Öresund-Brücke von Dänemark nach Schweden fahren. Außerdem sollen rund 80.000 Menschen ohne positiven Asylbescheid abgeschoben werden. "Wir haben sehr viele aufgenommen", sagt Alexander. "Wir sind ein reiches Land und sollten alle aufnehmen, die Schutz benötigen."
Alexander ist ein 28-jähriger Bauarbeiter, der in Göteborg lebt, nach Stockholm die zweitgrößte Stadt Schwedens. "Ich habe nichts gegen Flüchtlinge. Die Stimmung ist aber schlechter geworden", sagt er. Obwohl er die Grenzkontrollen gut findet, da viele Flüchtlinge illegal nach Schweden gekommen sind, ist er mit der Asylpolitik in seinem Land nicht zufrieden. "Es herrscht Chaos. Ich bin ein Linker, aber mittlerweile haben die Rechten offenbar mehr zu sagen, als unser Premier (Stefan Löfven)."
Die Überforderung der schwedischen Regierung geht auch mit dem Aufstieg der "Schwedendemokraten" (Sverigedemokraterna) einher. Die rechtspopulistische Partei mit einer Anti-Flüchtlingspolitik wurde von rechtsextremen Gruppen 1988 gegründet. Bei den Parlamentswahlen im Herbst 2014 erreichte sie knapp 13 Prozent und ist seitdem als drittstärkste Kraft mit 49 Abgeordneten im Reichstag vertreten. Laut einer Umfrage vom vergangenen Dezember würde die Partei heute bei 20 Prozent liegen - ein Rekordhoch.
Der schwedische Journalist Petter Larsson schrieb Anfang Jänner, dass die Popularität der Rechtspopulisten gestiegen ist, als die Flüchtlingskrise den politischen Diskurs zu dominieren begann. Deshalb sei die schwedische Politik in einem Teufelskreis gefangen, meint Larrson. "Je mächtiger die Schwedendemokraten werden, desto stärker wird das Flüchtlingsthema in den Köpfen der Wähler verankert, vice versa."
"Politik ist eine Konfliktzone"
Der 58-jährige Lkw-Fahrer Hong findet, man soll alle Menschen gleich behandeln, egal woher sie kommen. Über den Aufstieg der Rechtspopulisten möchte er nichts sagen. "Politik ist eine Konfliktzone. Ich habe meine Meinung, möchte sie aber nicht unbedingt mit jedem teilen", erklärt er.
Ganz anders Thjorven von der schwedischen Insel Orust. Sie spricht offen über die politische Situation in ihrem Heimatland. "Bei den Schwedendemokraten gibt es schon Nazis, die Hass und Neid schüren“, sagt die 27-Jährige. Heute sei es offenbar in Ordnung, Sachen über flüchtende Menschen zu sagen, die man vor einigen Jahren nicht in den Mund genommen hätte. Das mache sie zornig.
Und dennoch begrüßt sie wie der 28-jährige Alexander die Grenzkontrollen, auch wenn viele europäische Länder daraufhin auch ihre Asylpolitik verschärft haben. "Hier auf der Insel gibt es nicht so viele Flüchtlinge, aber im Süden des Landes. Platz hätten wir ja genug, aber Arbeitsplätze sind Mangelware. Auch in unseren Schulen sind sie überfordert", sagt Thjorven.
Anrufen bis Anfang Juni
Trotz aller Probleme finden die Personen, mit denen KURIER.at gesprochen hat, ihr Land "amazing", "wonderful" oder "fantastic". Es sei zwar hin und wieder kalt, die Stimmung ist nicht mehr so gut wie "damals", die Landschaft sei aber "toppen" (großartig) und eine Reise wert. "Wenn du kommst, musst du Janssons frestelse kosten", sagt Michael bevor er sich mit einem "hej då" verabschiedet.
Bis zum schwedischen Nationalfeiertag am 6. Juni kann das Land noch angerufen werden. Dann wird die Kampagne evaluiert und darüber entschieden, ob die schwedische Telefonnummer fortgesetzt werden soll.
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