Blindenpädagoge Capovilla: "Inklusion funktioniert nur im Einzelfall"

Das Nichtdazugehören ist für Kinder mit Behinderungen das Schlimmste
Die beste Schule ist die, die ein Kind zur Höchstleistung führt, sagt Blindenpädagoge Capovilla. Er sagt, warum Südtirol für Österreich kein Vorbild ist.

Weil Südtirol ohne Sonderschulen auskommt, gilt die Region vielen als Vorbild – zu Unrecht, wie Dino Capovilla meint. Der Südtiroler, selbst sehbehindert, ist Professor für Blindenpädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin.

KURIER: Kann Inklusion überhaupt funktionieren?

Blindenpädagoge Capovilla: "Inklusion funktioniert nur im Einzelfall"
Dino Capovilla:Nur im Einzelfall, nie als Gesamtkonzept. Auch weil nicht klar ist, was Inklusion heißt. Bedeutet sie gesellschaftliche Teilhabe, ist mit einer inklusiven Schule das Ziel noch nicht erreicht. – das Leben dauert ja länger als die Schulzeit. Wenn ich nicht lesen, schreiben und rechnen kann, bin ich den Großteil des Lebens jenseits der Inklusion. Schulische Inklusion befürworte ich nur, wenn das höchste Bildungsziel, das ein Kind erreichen kann, auch erreicht wird. Und wenn Hänseleien und das Nicht-Dazugehören keine stärkeren Schäden anrichten als in einer Sonderschule – aber nur dann.

Wie haben Sie Ihre eigene Schulzeit empfunden?

Vieles ist heute anders als zu meiner Schulzeit. In der Volksschule (Anfang der 90er Jahre) wurde ich nicht speziell gefördert. Ab der 6. Schulstufe wurde es wenigstens versucht. Erstaunlich: Obwohl es seit den 70ern die Inklusion gibt, war ich einer der ersten, der mit einer so starken Sehbehinderung überhaupt bis zur Matura gekommen ist. Es wurde versucht, aus dem Stegreif Lösungen zu finden, was daran liegt, dass es keine Ausbildung zum Sonderpädagogen gab, sondern Integrationshelfer – meist Deutsch- oder Geschichtslehrer, die keine Anstellung fanden. Sie saßen neben mir in den Fächern, in denen man annahm, dass ich die größten Schwierigkeiten hätte, z.B. in Mathe. Doch der Germanist hatte meist keine große Muße, für mich Wurzeln und Indizes abzuschreiben.

Ich selbst habe bis zur 9. Schulstufe jede Unterstützung abgelehnt, weil ich wie die anderen sein wollte. Das hatte einen Grund: Im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren war die Hänselei am ärgsten, und das war eine Strategie, damit umzugehen. Selbst wenn Lehrer mir helfen wollten, indem sie z.B. Zettel vergrößerten, brachte das nichts. Ich traute mich aber nicht zu sagen, dass sie das lassen sollen. Das war albern.

Wie haben Sie es geschafft, Uni-Professor zu werden?

Mein beruflicher Erfolg ist nicht Folge der Inklusion, sondern des Zufalls. Das kann nicht der Maßstab sein, wie sich Biografien entwickeln. Ich habe das Glück, eine gute Auffassungsgabe zu haben und mir beim Lernen leicht zu tun. In der Schule fand ich Ersatzstrategien, als wichtigstes Hilfsmittel hatte ich eine Lupenbrille, denn damals fehlte das Know-how, welche technischen Hilfsmittel es gibt – das Geld hierfür wäre sogar da gewesen.

Warum kannte sich niemand aus? Gab es keine Sonderpädagogen?

Nein. Nach 2001 habe ich selbst außerschulische Kurse angeboten und Sehbehinderten diese Technologie beigebracht

Wie wird heute z.B. Brailleschrift unterrichtet?

Weder der Mitarbeiter für Integration, der den Schülern zur Seite gestellt wird, noch der Lehrer kann diese sinnvoll unterrichten, da er diese, wenn überhaupt, nur nebenbei gelernt hat. Ich bin skeptisch, dass jemand Gebärdensprache oder Brailleschrift lehren kann, wenn er nicht ständig damit zu tun hat. Hoffentlich lernt das das Kind außerhalb der Schule.

Wenn Sie selbst ein Kind mit Behinderung hätten: Würden Sie eine Sonderschule bevorzugen?

Ich würde erspüren, wo der soziale Anschluss gegeben ist. Wenn es den in der Regelschule gibt, würde ich mich hierfür entscheiden und dafür sorgen, dass es z.B. am Nachmittag Behinderungsspezifisches wie Brailleschrift lernt. Wenn es sozial Schwierigkeiten hat, wäre ich für die Sonderschule.

Wie schwierig ist es, als Kind mit Behinderung unter Kindern zu leben, die keine Beeinträchtigung haben?

Man steht unter extremem Anpassungsdruck und ist mit Erwartungen von Eltern, Lehrern und Mitschülern konfrontiert. Die Frage ist doch, wie sich das Selbstbild eines Kindes formen soll, wenn es die Reflexion, dieses Messenkönnen mit anderen, nicht hat. Ich werde mit meiner Sehbehinderung z.B. nie so schnell lesen wie andere. Deshalb sollte ein Kind zumindest zeitweise unter Kindern sein, die ähnliche Beeinträchtigungen haben.

Ist die Inklusion in Südtirol auf dem richtigen Weg?

Es wird sich vielleicht etwas ändern, wenn die jüngere Generation in den Selbsthilfeorganisationen das Sagen haben wird. Die hat diese Form der Inklusion erlebt und setzt den Fokus auf anderes, auf berufliche Teilhabe. Hier wird es hoffentlich um die Frage nach der bestmögliche Förderung gehen: Gemeinsamer Unterricht allein wird sicher nicht reichen.

In Österreich fordern viele Behindertenverbände die Auflösung der Sonderschulen. Manche Eltern wollen diese erhalten.

Wenn Institutionen sagen: "Nur Inklusion ist richtig", ist das eine Form des Imperialismus, wo Menschen ohne Behinderung Menschen mit Behinderung sagen, wie sie zu leben haben. Manche Eltern sehen das hingegen pragmatisch. Es geht um die Frage, wie das Kind am besten gefördert werden kann. Hat mein Kind z.B. eine Sprechbeeinträchtigung, die auf die Dauer durch eine Therapie gemildert werden kann, ist vielleicht die Sonderschule der richtige Weg, wenn dort eine Therapie möglich ist und sich das Kind in der Gruppe nicht all zu anders fühlen muss. Lässt sich wie bei den meisten Sehbehinderungen nichts an der Schädigung verändern, müssen Strategien zur Kompensation der Behinderung gelernt werden. Wenn das im oder zusätzlich zum Regelunterricht gelingt, sind beide Wege denkbar. In beiden Fällen braucht es ganz verschiedene Expertisen, um die bestmögliche Förderung sicherzustellen. Bei der Diskussion wird oft vergessen, was mit schwer mehrfachbehinderten Kindern passiert, wenn es keine Sonderschulen mehr gibt. In Südtirol gibt fürdiese Kinder separate Klassen. Doch was ist daran Inklusion? Für diese Kinder ist eine Sonderschule mit Expertise sicher besser.

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