"Wir dürfen uns nicht nur um Flüchtlinge kümmern"

Plädierte in Wien für Humanität, aber auch Realitätssinn: Hannelore Kraft (SPD)
Akzeptanz der Bevölkerung würde sinken, wenn andernorts gespart wird, warnt Ministerpräsidentin Kraft.

Ganze 201.000 Flüchtlinge hat Nordrhein-Westfalen (NRW) in diesem Jahr aufgenommen, knapp 60.000 sind in der Erstunterbringung, es gibt weit über 200 Notunterkünfte. Sind die Aufnahmekapazitäten von Deutschlands größtem Bundesland schon erschöpft? „Die sind immer erreicht und trotzdem finden wir neue“, sagte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) am Freitag bei ihrem Besuch in Wien.

Zuletzt hatten 215 Bürgermeister von Gemeinden und kleineren Städten in Nordrhein-Westfalen einen Hilferuf an Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidentin gerichtet. „Alle sind an der Belastungsgrenze, völlig klar. Aber alle ziehen immer noch mit“, betonte Kraft. Sie rechnet freilich damit, dass die Kosten durch die Flüchtlingskrise in Deutschland 2016 weiter steigen. Dank guter Konjunktur und Einnahmen sei das aber verkraftbar. Denn die Mehrausgaben für Flüchtlinge dürften nicht zu Kürzungen an anderen Stellen führen: „Das ist enorm wichtig, weil sonst die Akzeptanz in der Bevölkerung nach unten geht.“

Nicht nur um Flüchtlinge kümmern

Einen (indirekten) Seitenhieb verpasste Kraft Österreich - und zwar für die wirre Debatte über Zäune an der slowenischen Grenze. „Wenn Vorschläge auf den Tisch kommen, die unausgegoren sind, aber suggerieren, man hätte die große Lösung, dann verunsichert das die Bevölkerung enorm. Diese Verunsicherung ist die Basis für die Entwicklung der Rechten und der Braunen in unseren Ländern.“ Da müsse man entschieden dagegenhalten. Sie sei froh, diese Position durchwegs auch bei ihren österreichischen Gesprächspartnern vorgefunden zu haben.

Die Politik dürfe sich aber nicht einzig und allein um die Flüchtlinge kümmern. Bildung, Infrastruktur und Langzeitarbeitslosigkeit erforderten ebenso große Aufmerksamkeit, mahnte Kraft. Wenn Turnhallen für Notquartiere belegt werden, sei das problematisch. Wenn hingegen 3600 Lehrerstellen neu geschaffen werden, „dann kommt das nicht nur den Flüchtlingskindern zugute. Das hilft bei der Argumentation.“

Den Eindruck, Deutschland könne mit den Flüchtlingen seinen Fachkräftemangel kompensieren, hält Kraft für falsch. Da aber die Hälfte der Migranten unter 30 Jahren sei, sollte ihre Integration rasch und entschlossen angegangen werden. „Ein Großteil derjenigen, die kommen, werden bleiben“, sagte Kraft. Nur knapp 5 Prozent kämen aus den Westbalkanstaaten und hätten in Deutschland wenig Aussicht auf Asyl. Deshalb sei es auch müßig, über verschärfte Abschiebungen zu diskutieren.

Bei Werten „strikt und klar sein“

Nicht nur unnötig, sondern sogar kontraproduktiv sei indes die Debatte über eine deutsche "Leitkultur", findet Kraft: "Unser Rechtssystem, unsere Ordnung, unser Wertesystem steht. Den Umgang mit Menschen anderer sexueller Orientierung oder die Stellung der Frau in der Gesellschaft, das werden wir nicht diskutieren. Wer hierher kommt, der hat das zu übernehmen, Punkt. Da müssen wir sehr strikt und sehr klar sein“, forderte sie. Und diverse „erklärungsbedürftige“ Gepflogenheiten wie die „Kehrwoche“ in Baden-Württemberg (jeder Mieter muss turnusgemäß das Stiegenhaus säubern, Anm.) oder den Kölner Karneval werden man den Flüchtlingen schon vermitteln können.

SPD soll Haltung zeigen

Im Hickhack zwischen der CDU (Kanzlerin Angela Merkel) und ihrer bayrischen Schwesterpartei CSU (Ministerpräsident Horst Seehofer) droht momentan die Position der SPD unterzugehen. Am Sonntag steht deshalb ein Krisen-Gipfel der Regierungskoalition an. Das Treffen sei „sinnvoll, um zueinander zu kommen“, sagte Kraft. Es biete die Chance, mit den Bayern die Diskussion zu suchen. Denn: „Politisch haben wir alle das gleiche Ziel: Wir wollen, dass weniger kommen.“ Das könne aber weder ihr Bundesland, noch Deutschland, noch Europa alleine lösen. Das sei Aufgabe der Außenpolitik und Diplomatie, aber auch der Entwicklungspolitik.

Für die parteipolitische Profilierung will die SPD-Vizechefin das Flüchtlingsthema nicht benutzten: „Jetzt geht es darum, das Richtige zu tun. Die SPD tut gut daran, hier eine klare Haltung zu zeigen." Und gewählt werde erst wieder 2017, im Bund und in Nordrhein-Westfalen. Dann wolle Kraft antreten - und zwar nicht als Kanzlerkandidatin, sondern abermals als Ministerpräsidentin von NRW.

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