Welthandel in Wild-West-Manier: Warum die WTO bald handlungsunfähig ist
Da war es nur noch eine: Ab 11. Dezember dürfte sich Hong Zhao in Genf sehr einsam fühlen. Die chinesische Professorin ist Richterin im Berufungsgremium, quasi dem Höchstgericht, der Welthandelsorganisation (WTO).
Eigentlich sollten sieben Rechtsexperten hier Dienst versehen. Am 10. Dezember läuft aber turnusgemäß die Amtszeit zweier Kollegen aus den USA und Indien aus. Was nach einer Formalität klingt, hat eine Sprengkraft, die die Fundamente des weltweiten Handelssystems erschüttern dürfte. Der KURIER beantwortet die zentralen Fragen.
Warum sollte eine einfache Personalie so dramatische Folgen haben?
Kurz gesagt: Weil die WTO in wenigen Tagen praktisch handlungsunfähig sein wird.
Eine ihrer wichtigsten Rollen ist die eines globalen Schiedsrichters in Handelskonflikten. Ob im Streit über unfaire Staatssubventionen für Airbus und Boeing, über Importe von Hormon-Rindfleisch in die EU oder zur Frage, ob Trumps Straf- und Antidumpingzölle sachlich gerechtfertigt sind: Die WTO ist bei all diesen Themen die Entscheidungsinstanz.
Ganze 97 Prozent des Welthandels werden unter dem Regelwerk abgewickelt, auf das sich die 164 Mitgliedsländer verständigt haben.
Wie genau kommt die Blockade zustande?
Für Streitfälle vor der WTO gibt es ein zweistufiges Verfahren: In rund 70 Prozent der Fälle werden Entscheidungen angefochten und landen vor dem Berufungsgericht. Dort muss ein Panel aus drei Schiedsrichtern urteilen. Das kann es aber nicht, wenn Hong Zhao als „last woman standing“ übrig geblieben ist. Die Behandlung neuer Fälle liegt also für ungewisse Zeit auf Eis.
Warum werden keine neuen Richter ernannt?
Das wird zwar versucht, aber die USA blockieren jede Bestellung. Übrigens nicht erst seit Trump: Im Mai 2016, noch unter Barack Obama, wurde einer südkoreanischen Richterin im Protest eine zweite Amtszeit verweigert. Weil in der WTO das Konsensprinzip gilt, müssen Entscheidungen einstimmig getroffen werden. Das Handelsteam von US-Präsident Donald Trump setzt das Veto nun seit Juni 2017 ganz bewusst ein, um das Schiedsgericht auszuhebeln.
Wie erklärt die US-Regierung die Blockade?
Zumindest ein Vorwurf stimmt nachweislich: Das Berufungsgericht hält die laut Statuten vorgesehene Prüfungsfrist von 90 Tagen nie ein. Die Fälle seien so viele und so komplex geworden, dass diese Frist „unrealistisch“ sei, sagte der mexikanische Richter Ricardo Ramirez-Hernandez in seiner Abschiedsrede. Pikanterweise wurde der Rückstau an Fällen verschärft, weil nur noch drei Richter vorhanden waren.
Der noch viel gravierendere US-Vorwurf lautet jedoch, dass das Gericht seine Kompetenzen ständig überschreite, Lücken im WTO-Regelwerk eigenständig ausfülle und somit Dinge entscheide, die es gar nichts angingen. Die USA hätten 1995 bei der Gründung der WTO nie zugestimmt, so viel Souveränität an eine Institution abzutreten, die ihren „Aktivismus“ vor keinen Wählern verantworten müsse, erklärte Trumps früherer Handelsstratege Stephen Vaughn im Experten-Podcast TradeTalks.
Welche WTO-Reformen fordern die USA?
Gar keine. Zumindest gibt es keine schriftlichen Reformvorschläge oder Bedingungen. Trumps Ex-Handelsberater erklärte das damit, dass die WTO-Streitbeilegung auf dem Papier zwar gut klinge, sich in der Praxis aber zu etwas ganz Anderen entwickelt habe. Wenn die EU, China und Indien nun als Reformvorschlag ein vergrößertes Gremium mit noch mehr Ressourcen und Kompetenzen forderten, hätten sie die US-Kritik nicht verstanden. Das sei das exakte Gegenteil dessen, was die Amerikaner wollen.
Wie stellen sich die USA dann ihre künftige Handelspolitik vor?
Die Verwirrung, welche die Entscheidungen der US-Regierung gestiftet haben, ist offenbar nicht allein Trumps Sprunghaftigkeit geschuldet. Dahinter scheint Kalkül zu stecken: Man sollte Handelspolitik nicht als starr betrachten, sondern „so ähnlich wie Steuerpolitik. Wir brauchen ein Menge Flexibilität“, sagte Ex-Berater Vaughn.
Für die USA, die als Konsumnation Nummer eins riesige Handelsbilanz-Defizite aufweisen, hätten zum Beispiel Anti-Dumping-Zölle für Billigimporte eine viel größere Bedeutung als für andere Nationen. Das habe die WTO bei ihren Entscheidungen konsequent ignoriert.
Welche Konsequenzen hat das Vorgehen der USA?
Viele Experten fürchten, dass sich mit der Blockade ihrer Höchstinstanz die WTO-Streitbeilegung als Ganzes erübrigt. Künftig müssten sich Konfliktparteien nämlich vorab einigen, auf eine Berufung zu verzichten. Sonst könnte die unterlegene Partei das Urteil in die Warteschleife ohne Wiederkehr schicken, indem es dagegen beruft.
Wie oft kommen Streitfälle vor? Wer macht davon Gebrauch?
Skurril, aber ausgerechnet die USA haben am häufigsten WTO-Gerichte bemüht (siehe Grafik unten). Dahinter folgt mit Respektabstand die EU.
Trump behauptet, dass die USA erst Fälle vor der WTO gewinnen, seit er Präsident ist. Stimmt das?
Nein. Eine Analyse von Dan Ikenson (Cato Institute) zeigt, dass die USA 91 Prozent jener Streitfälle gewonnen haben, die sie von 1995 bis 2017 selbst vor die WTO gebracht hatten. Hingegen hätten sie 89 Prozent der Fälle verloren, bei denen sie die beklagte Partei waren. Das deckt sich mit dem Abschneiden anderer Staaten und ist einfach erklärt: Regierungen bringen nur dann Fälle vor die WTO, wenn sie sehr sicher sind, diese gewinnen zu können.
Was hat die Europäische Union geplant?
Ein Vorschlag der EU läuft darauf hinaus, quasi eine Koalition der Willigen zu schmieden. Gemeinsam könnte man ein paralleles Berufungsgericht gründen und dessen Urteile anerkennen, sei es inner- oder außerhalb der WTO. Das wäre freilich eine Wanderung auf einem schmalen Grat und könnte deren Ende einläuten: Die USA haben für diesen Fall angedroht, ihren Beitrag zur Finanzierung der WTO einzubehalten (siehe Grafik).
Wie würde die Handelspolitik ohne WTO -Regelwerk ablaufen?
Einen recht guten Vorgeschmack darauf konnte man in den vergangenen Monaten und Jahren erhalten. Denn es haben nicht nur die USA seit Trumps Amtsantritt mit ihren Strafzöllen und Importhürden zum „Schutz der nationalen Sicherheit“ an der WTO vorbei agiert. Auch China unterwandert das Prinzip des freien Handel seit seinem umstrittenen Beitritt 2001 konsequent. Die WTO muss sich den Vorwurf gefallen lassen, die fragwürdigen Geschäftspraktiken des autoritären Regimes in Peking nicht effizient unterbunden zu haben.
Wie wirkt sich die neue Ära langfristig auf den Außenhandel aus?
Ökonomen sprechen in diesem Zusammenhang gerne vom „Ende des Multilateralismus“ und einer „neuen Ära des Merkantilismus“. Mit diesem Fachjargon ist eine Welt gemeint, in der sich der Stärkere durchsetzt und mit Drohungen und Strafaktionen das Faustrecht durchsetzt. Dass das eher den großen Wirtschaftsblöcken nützt und kleinere Akteure – die sich nicht mehr auf Regeln berufen können – unter die Räder kommen, liegt auf der Hand.
Läutet ein mögliches WTO-Versagen das Ende der Globalisierung ein?
Die deutsche Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) sieht durch die Blockade des WTO-Schiedsgerichtes „größere Erschütterungen“ der Handelsbeziehungen vorher. Am Ende könnte sich die bestehende Ordnung des Welthandels als Ganzes aufdröseln. Was manchen Kritikern vermutlich sogar recht wäre.
Denn die Globalisierung und der freie Handel würden immer öfter als Schuldige für Jobverluste oder Armut identifiziert, sagte Ex-WTO-Richter Ramirez-Hernandez: „Sie sind dankbare Ziele, weil sie sich nicht wehren können.“ Hingegen habe er nur sehr selten gehört, dass falsche nationale Industrie- und Agrarpolitik, eine inkompetente Justiz oder Korruption verantwortlich gemacht würden.
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