Von Amazon bis Alibaba – unendlich groß scheint der Vorsprung der amerikanischen und chinesischen Digitalwirtschaft gegenüber jener in Europa. Wenn die EU-Kommission nächste Woche ihr „Gesetz für digitale Dienste“ vorlegt, sollen die großen Internetplattformen reguliert werden. Doch Europas größter Nachteil besteht weiter, sagt Big-Data-Experte Viktor Mayer-Schönberger: der mangelnde Zugang zu Daten.
KURIER: Brauchen wir ein europäisches Facebook, Amazon oder Google?
Viktor Mayer-Schönberger: Nein, wir brauchen keine Kopie von dem, was schon existiert. Das wäre, als ob wir jetzt die Dampflokomotiven aus dem 19.Jahrhundert nachbauen würden. Was Europa braucht, ist die Innovation der nächsten Generation. Das, was jetzt noch nicht erfunden ist.
Und ein zweiter Grund: Amazon, Google, Facebook haben zu einer hohen Informations- und Marktkonzentration geführt. Wenn wir das jetzt in Europa nachbauen würden, hätten wir halt einen europäischen Monopolisten. Aber es wäre eben ein Monopolist, der den Wettbewerb und die Innovationsfähigkeit europäischer Wirtschaft stören würde.
Ein Beispiel, wie weit Europa hinterherhinkt, zeigt die Google-Tochter Waymo, die selbstfahrende Autos entwickelt. Wie kann so ein Rückstand je aufgeholt werden?
Bei den jährlich Testergebnissen selbstfahrender Autos in Kalifornien wird aufgelistet, wie oft ein Mensch eingreifen musste. Bei Waymo war dies im Schnitt nach 21.273 Kilometern der Fall. Und wie weit fährt ein Daimler-Benz selbstfahrendes Auto, ehe Notwendigkeit zum Eingreifen bestand? 11,1 km. Das Google-Auto fährt also 2000 Mal besser, sicherer, zuverlässiger. Warum?
Big-Data-Forscher
Viktor Mayer-Schönberger ist Professor für Internet-Regulierung an der Uni in Oxford. Zuvor hat der in Zell am See geborene Bestseller-Autor („Delete“) zehn Jahre lang in Harvard unterrichtet
„Recht auf Vergessenwerden“
Mayer-Schönberger den Begriff geprägt: Daten sollten nach einer bestimmten Zeit automatisch gelöscht werden. So weit geht die Gesetzeslage in Europa noch nicht. Heute können aber personenbezogene Daten auf Wunsch etwa bei Google gelöscht werden
Weil Google so unvorstellbar viele Daten sammelt - jede Sekunde in einem selbstfahrenden Auto eine Milliarde Datenpunkte. Zusätzlich zu den 350 selbstfahrende Autos auf den Straßen haben sie eine virtuelle Welt gebaut: Da fahren über 20.000 Autos Tag und Nacht digital durch die Gegend, haben mit Eis, Schnee und Fußball spielenden Kindern zu tun. Daraus generieren sie Daten, anhand derer die selbstfahrenden Autos weiter lernen. Das hat Daimler-Benz einfach nicht.
Wenn aber Google-Waymo den Zugang von Daten gewähren müsste, wäre die Ressource Daten auch für Daimler verfügbar. Damit ist noch nicht sichergestellt, dass Daimler diese Daten tatsächlich sinnvoll nutzt. Aber wenn Sie überhaupt keinen Zugang zu der Ressource haben, dann können Sie sich bemühen, wie Sie wollen. Sie werden immer unglaublich weit hinten bleiben.
Die vielbeschworene digitale Souveränität für Europa, warum muss die überhaupt sein?
Es geht darum, dass wir in Europa die informationelle Macht nicht gänzlich aus der Hand geben. Das bedeutet, vor allem in den kleinen, aber wichtigen Gebieten der Informationstechnologien ganz vorne mit dabei zu sein. Damit können wir zentrale Schlüsselpositionen in der Digitalwirtschaft besetzen.
In Zukunft etwa wird die Quanten-Verschlüsselung, die digitale Kommunikation abhörsicher macht, bedeutend sein - und da liegt Europa vorne. Digitale Souveränität bedeutet Kontrolle über diese Schlüsseltechnologien. Es geht also nicht darum, alles an digitaler Technologie zu beherrschen, sondern eben diese Flaschenhälse.
Auf einer Skala von eins bis zehn: Wo steht Europa in der Digitalwirtschaft, wo China und USA?
Also aus derzeitiger Sicht sind die USA und China bei 7 und Europa bei vier bis fünf.
Je nachdem, wie man es sieht. Vor zehn Jahren waren die USA bei 9, sie haben also seither zwei Punkte verloren. Trotzdem hat dieser Verlust nicht dazu geführt, dass Europa wesentlich aufholen konnte. Wo sind denn die großen europäischen digitalen Innovationen und Superstars? Da bleibt außer Spotify nicht sehr viel über.
Dabei hat Europa Innovationskraft, wird aber dieser Innovationskraft nicht gerecht, weil die Unternehmen, insbesondere die Kleinen und die Startups, jene Ressource nicht haben, die sie am Wichtigstem brauchen. Und das ist nicht Geld, sondern der Zugang zu Daten. Wenn es um die Zukunftssicherheit der europäischen Autoindustrie, der europäischen Industrieproduktion generell geht, dann ist ohne den breiten Zugang zu Daten einfach nichts mehr zu gewinnen.
Wie sollen die europäischen Unternehmen zu diesen Daten kommen, wenn die amerikanischen oder chinesischen IT-Giganten drauf sitzen und sie wohl eher nicht freiwillig hergeben werden?
Indem Europa entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen schafft. Warum haben wir neben der Datenschutz-Grund-Verordnung nicht auch eine Daten-Nutz-Grundverordnung? Eine Regelung, dass man die Großen zwingt, anderen Zugang zu einem Teil ihrer Datenbestände zu gewähren.
Wie soll das gehen? Wie kann die EU-Kommission Google zwingen, Daten herauszugeben?
Die EU kann gesetzlich festlegen, dass Unternehmen ab einer bestimmten Größe eine bestimmte Menge entpersonalisierter Daten anderen zur Verfügung stellen müssen. Nicht alle Daten, sondern bloß ein kleines Sample, also ein oder ein Zehntel-Prozent der Daten. Freiwillig wird das nicht gehen, man braucht schon den Mut zur Regulierung der Systeme.
In der Vergangenheit war es immer so, dass die großen Unternehmen billiger produzieren. Das führt dazu, dass die Großen noch größer werden, weil sie geringere Stückkosten haben. Aber es gab immer auch ein Gegengewicht – das war Innovation. Kleine Unternehmen hatten oft eine bessere Idee und ein besseres Produkt. Dann sind die Großen klein geworden und die Kleinen groß. Aber jetzt, im Digitalzeitalter, braucht es nicht nur eine gute Idee, sondern auch Daten, um eine gute Idee in eine erfolgreiche Innovation umsetzen zu können.
Man muss diese Daten ja auch nutzen können.
Richtig: 85 Prozent aller in Europa gesammelten Daten werden nicht ein einziges Mal genutzt! Viele Unternehmen in Europa glauben fälschlich, dass Daten das neue Öl wären. Das sammelt man dann im großen Tank im Keller und wartet, bis der Preis steigt und kann es dann teuer verkaufen. Aber das ist völliger Holler. Daten sind eben nicht das neue Öl, weil sie an sich keinen Wert haben. Der Wert der Daten entsteht erst durch die Nutzung.
Und der totale Konkurrenzkampf zwischen USA und China, in welche Richtung führt der? Das Spannende am digitalen Machtkampf China versus Amerika ist, dass sie zwar miteinander kämpfen, aber nicht mehr innovativ sind. Da geht es nur mehr um Marktanteile und Protektionismus. Da sind zwei riesige Sumo-Ringer, die immer dicker werden und sich gegenseitig nichts erlauben und nichts zulassen.
Und das wäre die Riesenchance für Europa, innovativ zu sein. Aber dafür bedarf eben der Möglichkeit, dass kleine ideenreiche Unternehmen auch eine Chance auf Erfolg haben. Und die haben sie im Datenzeitalter nur, wenn sie den Zugang zu Daten haben. Sonst fehlt ihnen einfach der Schlüssel zum Erfolg.
Gesetzt den Fall, dieser Erfolg gelingt Europa nicht. Was blüht uns dann?
Was allen großen Wirtschaftszonen am Ende ihre Bedeutsamkeit passiert ist - Niedergang. Die Wirtschaftsgeschichte ist voll von Beispielen von großen Unternehmen, die bequem wurden und dann untergingen. Nokia etwa. Oder wer erinnert sich noch an Compaq? Das war einmal einer der größten PC-Hersteller. Oder der Autohersteller Saab. Wer bequem wird, wer Innovation verschläft, der hat keine Chance mehr.
Titel: Professor, für die „Frage der Regulierung des Internets“ zuständig, seit 2010 Professor in Oxford, davor zehn Jahre lang in Amerika, Harvard. gebürtig aus Zell am See.
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