Warum der Zug in Europa in Richtung Kernkraft geht
Taxonomie-Regeln: Österreich hat Einspruch eingelegt – doch die EU wird ihren Kurs nicht ändern. Atomkraft und Erdgas sollen das Pickerl „grün“ erhalten
Sechs gegen 21 Staaten – so sieht das europäische Ungleichgewicht aus auf die Frage, ob Atomkraft das Prüfungspickerl „grün“ erhalten soll. Die mehr als drei Mal so große Mehrheit sagt: „ja“. Und doch weht der EU-Kommission bei ihren Plänen, Kernenergie und auch Gas als nachhaltige Technologien einzustufen, immer heftigerer Widerstand entgegen.
Freitag Mitternacht endete die Einspruchsfrist europäischer Regierungen gegen Brüssels sogenannte Taxonomie-Regelung. Was bedeutet das – und werden nun rund um Österreich neue Atomkraftwerke entstehen? Dazu die wichtigsten Fragen und Antworten:
Warum ist es so bedeutsam, ob Atomkraft in die Taxonomie aufgenommen wird oder nicht?
Die Taxonomie ist eine Art Prüfsiegel für Finanzprodukte. Sie soll privaten Investoren darüber Gewissheit geben, dass sie in grüne, nachhaltige Technologien oder Unternehmen investieren. Denn ohne private Finanzierung ist das Ziel Europas, bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu werden, nicht zu schaffen. Findet sich auf dieser Taxonomie-Liste nun auch Atomkraft, würde sie in Europa offiziell das Gütesiegel „grün“ erhalten. Und damit, so lautet zumindest die Hoffnung der Staaten mit Nuklearstrom-Ambitionen, würden auch von privater Seite die benötigten Milliarden für den Bau von AKW leichter fließen.
Würde das bedeuten, dass die EU mit dem Geld – auch österreichischer – Steuerzahler, neue Atomkraftwerke bauen würde?
Wie EU-Budgetkommissar Johannes Hahn dem KURIER versichert hat, „wird kein EU-Geld für den Bau von Atomkraftwerken fließen“. Die offiziellen Fördertöpfe Brüssels bleiben für den Bau neuer Kernkraftwerke somit geschlossen.
Warum will dann Umweltministerin Leonore Gewessler trotzdem gegen die Taxonomie-Pläne der EU-Kommission klagen?
Für Österreich ist die Glaubwürdigkeit der gesamten Taxonomieliste wichtig. Die steht aber auf dem Spiel, wenn auf dieser Liste auch Atomkraft oder Gas zu finden sind. Und dass Atomkraft nicht nachhaltig sei, hat Gewessler schon in einem umfangreichen internationalen Rechtsgutachten vergangenen Herbst einholen lassen. Rechtsexperten geben solch einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof allerdings wenig Chancen auf Erfolg. Eingereicht werden kann solch eine Klage erst, wenn der Rechtsakt in Kraft tritt – das wird frühestens Anfang Sommer der Fall sein.
Wer steht noch gegen das Vorhaben, Atomkraft als grün einzustufen?
Luxemburg würde sogar bei einer Klage mitziehen, Widerstand gibt es aber auch von Spanien, Portugal und Dänemark. Ein „klares Nein“ kommt auch von der deutschen Ampel-Regierung – allerdings nur zum Thema Kernkraft. Den Bau neuer Gaskraftwerke sieht man in Deutschland als unerlässlich an. Andernfalls sei Deutschlands Ausstieg aus der Kernenergie und auch aus der Kohle nicht zu schaffen. Berlin will deshalb Gas als „Brückentechnologie“ auf dem Weg zur Klimaneutralität sehen. Zumindest vorerst würde deshalb auch Gas das Label „grün“ bekommen.
Und was meinen die, an die sich die Taxonomie eigentlich richtet? Die privaten Investoren?
Die Skepsis ist groß: In der Vorwoche hat eine 370 Großbanken und Fonds umfassende internationale Investorengruppe die Kommission aufgefordert, Gas von der Taxonomieliste zu nehmen. Andernfalls wäre die „Glaubwürdigkeit der Taxonomie sowie das gesamte Ziel der EU, bis 2050 klimaneutral zu werden, in Gefahr“, hieß es in einem offenen Brief der Großinvestoren. Auch der eigene Expertenrat der EU-Kommission kritisiert die Pläne: Er sieht weder Atomkraft noch Erdgas als nachhaltige Technologien an.
Bei der Gewinnung von Atomstrom wird wenig CO2 ausgestoßen. Werden nun in Europa mit diesem Argument neue AKW gebaut?
13 der 27 EU-Staaten betreiben derzeit Atomkraftwerke, 110 Reaktoren sind in Betrieb. Mindestens acht Staaten planen den Bau neuer AKW – darunter Österreichs Nachbarn Ungarn, Tschechien und die Slowakei.
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