Verlängerte Werkbank der USA: Wird Mexiko das neue China?
von Vitus Ortner
Im Norden Mexikos, in der Nähe der zweitgrößten Stadt des Landes, Monterrey, entsteht gerade der Hofusan Industrial Park. Es gibt schon viele Industrieparks in der Region, doch dieser ist anders. Die Plakate dort sind dreisprachig auf Englisch, Spanisch und Mandarin, ebenso die Website. Es gibt im Moment ein Restaurant auf dem Gelände – chinesische Küche. Die 8,47 Quadratkilometer des nordmexikanischen Areals füllen sich Stück für Stück ausschließlich mit chinesischen Unternehmen. Das ist neu.
Das Projekt deutet auf eine fundamentale Verschiebung in der globalen Wirtschaft hin. Chinas wirtschaftlicher Aufstieg hat die Löhne so sehr steigen lassen, dass sich die Welt immer mehr nach einer neuen Werkbank umsieht. Und einer der Staaten, der davon am meisten profitieren könnte, ist Mexiko.
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Bei dem Land denkt man in unseren Breitengraden aber häufig zuerst an Korruption und Kriminalität. Und das leider zurecht. Im Corruption Peceptions Index, der gefühlte Korruption misst, landete Mexiko 2022 auf Platz 126 von 180. Das Land hat mit 28 Morden pro 100.000 Einwohnern eine der höchsten Tötungsraten der Welt.
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Und dennoch boomen die ausländischen Direktinvestitionen. Über 35 Milliarden US-Dollar betrugen sie 2022, ein Wachstum von 12 Prozent gegenüber 2021. Allein Tesla plant eine Fabrik für zehn Milliarden Dollar, Ford legt noch einen drauf und will ganze 50 Milliarden investieren. Was ist es also, das Unternehmen aus dem Westen und aus China dazu bringt, ihr Kapital in einen Kriminalitätshotspot zu stecken?
Der große Nachbar
Vieles spricht für den südlichen Nachbarn der USA, allem voran genau das. Die Nähe zum größten Konsumentenmarkt der Welt bedeutet, dass Güter sehr einfach zu den Kunden gebracht werden können. Anstatt in einem chinesischen Hafen verladen zu werden, den größten Ozean der Welt zu überqueren, in einem der chronisch ineffizienten Westküstenhäfen der USA den Weg an Land zu finden und dann mit dem Zug oder LKW ans Ziel zu gelangen, kann ein Produkt direkt von der Fabrik in Mexiko zum amerikanischen Konsumenten.
Über sieben Millionen LKWs haben daher 2022 die USA von Mexiko aus erreicht. Über 60 Prozent davon nutzen den Grenzübergang in Laredo, Texas, der nächste zu Monterrey. Sie liefern zunehmend auch Produkte aus Hofusan, neben den bereits etablierteren Produktionsstätten westlicher Firmen.
Dabei war eine von Chinas großen Stärken in der Vergangenheit immer die gewaltige Anzahl an günstigen Arbeitskräften. Trotzdem lagern chinesische Firmen nach Mexiko aus. Denn auch hier kann das Land punkten. 2020 kostete eine Industriearbeitsstunde in China nämlich 6,50 USD, in Mexiko nur 4,82 USD. Gleichzeitig ist die Produktivität in Mexiko höher. Das bedeutet Kostenersparnisse jenseits der 20 Prozent – nicht nur für westliche Unternehmen.
Die Demographie spricht für Mexiko
Dass in Mexiko viel weniger Menschen leben als in China, ist auch noch kein Hindernis. Der Arbeitskräftepool ist trotzdem riesig. Von den knapp 127 Millionen Einwohnern sind über 87 Millionen im erwerbsfähigen Alter. Das sind zwar nur 10 Prozent von Chinas gewaltigen 875 Millionen erwerbsfähigen Bürgern. Doch Mexiko wächst weiter, während China seinen Zenit schon 2022 überschritten hat und rasant altert.
Diese Personalkostenvorteile versuchen chinesischen Firmen jetzt im Hofusan Industrial Park zu nutzen. Dort finden sich neben dem namhaften Elektronik-Produzenten Hisense auch die Möbelfirmen Kuka, Sunon und Man Wah oder der Hersteller von Kunstrasen Bellinturf.
Der Handelsstreit mit China verschiebt die Lieferketten
Die vielen positiven ökonomischen Vorzeichen brauchten jedoch einen Startschuss, um wirklich genutzt zu werden. Der passierte 2018. Seit Donald Trump in diesem Jahr seinen Handelskrieg gegen China vom Zaun gebrochen hat, stagniert das Handelsvolumen zwischen den USA und China weitestgehend. Dadurch konnte bereits 2019 Mexiko den ersten Platz im Ranking der größten Handelspartner der USA erreichen und wechselt sich seitdem mit Kanada dort ab.
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Das Freihandelsabkommen USMCA, vormals NAFTA, zwischen Kanada, den USA und Mexiko ermöglicht weitestgehend uneingeschränkten Warenverkehr am nordamerikanischen Kontinent. Zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Welt bestehen währenddessen weiter hohe Zölle. Mexiko wird damit zur Möglichkeit, dem Handelskrieg auszuweichen.
Gefestigt hat den Trend dann aber keine Entscheidung in Washington, sondern ein Ereignis in Wuhan. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie verletzlich unsere globalen Lieferketten sind und wie sehr Einschränkungen vor allem in China die Welt beeinflussen können. Seitdem versuchen Staaten, wieder mehr Kontrolle und Verlässlichkeit in die komplexen Liefersysteme einzubauen. Da ist ein Nachbarstaat mit Freihandelsabkommen deutlich besser als ein tausende Kilometer entfernter Systemrivale.
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Es gibt noch viele Probleme zu lösen
Also alles gut, Mexiko wird die neue Werkbank der Welt und schnappt China die Fabriken weg? So einfach ist es nicht. Neben der eingangs erwähnten Korruption und Kriminalität warten noch andere Probleme auf.
Das fängt bei der stark unterentwickelten Bankeninfrastruktur an. Gerade einmal die Hälfte der Mexikaner hat ein Bankkonto. Das macht natürlich tägliche Transaktionen mühsamer und weniger verlässlich. Vor allem aber macht es Sparen und Investieren schwierig und schädigt die Effektivität des Steuersystems. So bleibt viel Potenzial ungenutzt, was sich auch nur schleppend ändert. Zwischen 2018 und 2022 wuchs der Anteil derer, die ein Bankkonto haben, um gerade einmal 2 Prozent.
Auch das Einkommen ist extrem ungleich verteilt. Mexiko landet im Ranking der ungleichsten Länder auf Platz 140 von 168. Das führt zum einen zu mehr Unzufriedenheit, Perspektivlosigkeit und damit Kriminalität und macht eine Volkswirtschaft zum anderen undynamischer. Doch auch China auf Platz 98 ist nicht so ausgeglichen, wie es die kommunistische Staatsform vermuten lassen würde.
Die Diaspora ist ein zweischneidiges Schwert
Solche Ungleichheit ist auch einer der Hauptgründe, warum über 11 Prozent der mexikanischen Bevölkerung im Ausland leben, fast alle in den USA. Ein großer Teil davon sind gut ausgebildete Fachkräfte, weshalb viele Analysten von einem Brain Drain sprechen.
Die Kehrseite dieser Medaille sind allerdings die Überweisungen der Auswanderer an ihre Familien in Mexiko. Mit knapp 60 Milliarden US-Dollar machten sie 2022 mehr als vier Prozent des mexikanischen Bruttoinlandsproduktes aus. Außerdem ist die Migrationsbewegung zwischen den USA und Mexiko inzwischen ausgeglichen, es bewegen sich in beide Richtungen etwa gleich viele Menschen.
Die Chancen sind riesig
Hofusan Industrial Park und die vielen chinesischen Unternehmen, die sich dort ansiedeln, lassen sich von diesen Hindernissen aber nicht aufhalten. Genau so wenig wie die westlichen Firmen, die im Begriff sind, ihre mexikanischen Kapazitäten auszuweiten.
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Auch wenn China den Fertigungsmarkt noch immer klar dominiert, deutet die Dynamik nach Amerika. Gelingt es Mexiko, diesen Trend auszunutzen, darf es auf einen Wirtschaftsboom nach dem Vorbild Chinas hoffen. Und westliche Konsumenten freuen sich über günstigere Produkte aus einem verlässlicheren Staat.
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