Schweiz: Im Paradies herrscht "Dichte-Stress"

Der Großraum Zürich erstreckt sich über Dutzende Kilometer – zwischen deutscher Grenze und Zürichsee wird allmählich der Platz knapp.
Opfer des eigenen Erfolgs: Den Eidgenossen wird ihr Land zu eng – das schürt Ängste in der Bevölkerung.

The world is too small": Dieses Gefühl bedrängt nicht nur Vorarlberger Ex-Minister, sondern auch viele Schweizer. Die Sorge hat sogar einen eigenen Namen: "Dichte-Stress" überkommt die Eidgenossen, wenn die Züge übervoll sind und es auf den Straßen staut. Oder wenn das Agrarland unter Betonburgen verschwindet – und trotzdem Wohnungsnot herrscht.

Es wird enger in den Schweizer Köpfen. Die nationalkonservative SVP mit ihrem populistischen Mastermind Christoph Blocher fand einen Sündenbock: die Zuwanderer. Die simpel gestrickte Politkampagne hatte Erfolg; im Februar 2014 sagten 50,3 Prozent der Schweizer überraschend "Nein zur Massenzuwanderung". Sie fordern Kontingente für Zuwanderer und Vorrang für Inländer – auch gegenüber EU-Bürgern. Die Unternehmen stürzt das in eine missliche Lage. Sie stöhnen unter Fachkräftemangel und sind auf die 280.000 Grenzgänger, die zum Arbeiten einpendeln, angewiesen.

Dabei kann es noch viel schlimmer kommen. Ende Juli hat die EU nämlich das Schweizer Ansinnen, die Verträge zur Reisefreiheit neu zu verhandeln, souverän abgeschmettert. Motto: Nur Rosinen rauspicken, das wird es nicht spielen. Fällt jedoch die Personenfreizügigkeit, wären in einem Dominoeffekt alle 2002 abgeschlossenen bilateralen Verträge obsolet.

Wachstumsskepsis

Schweiz: Im Paradies herrscht "Dichte-Stress"
"Der wichtigste Pfeiler unseres Erfolgs ist ins Wanken geraten", sagt Heinz Karrer, Chef des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse. Die Schweizer Wirtschaft ist nämlich enger mit dem EU-Binnenmarkt verzahnt als jene vieler Mitgliedstaaten. Großzügige Exporterleichterungen für die Landwirte und die Industrie, die Teilnahme an EU-Ausschreibungen und Forschungsprojekten, Landerechte für Schweizer Airlines, die Reisefreiheit im Schengen-Raum ohne Personenkontrollen: All das steht auf dem Spiel. "Mit Vollgas ins Abseits", kommentiert das Wirtschaftsmagazin Bilanz.

In Bern macht sich Ratlosigkeit breit. Vermutlich will die Regierung durch wortgetreue Umsetzung eine spätere "Korrektur des Volksentscheides" erzwingen, sagt Gerhard Schwarz von der Denkfabrik Avenir Suisse. Sprich: Es werden Horrorszenarien gemalt und irgendwann erneut abgestimmt.

Der Züricher Regierungsrat Ernst Stocker wirbt indes um Verständnis. Seit 1970 sei die Einwohnerzahl von 6,2 auf 8 Millionen explodiert. Das verunsichert und schürt Wachstumskritik – sogar unter liberalen Bürgern. Ein Wohlstandsphänomen, so Schwarz: "Viele sagen sich: Mir geht es gut, warum also noch mehr?" Der Irrglaube sei, dass sich Reichtum ohne Wachstum erhalten ließe.

Spät, aber doch verstärken die Wirtschaftsverbände den Dialog mit der Bevölkerung. Denn am 30. November wird wieder abgestimmt: Zur Schonung der Ressourcen will die Umwelt-NGO Ecopop die Zuwanderung noch mehr begrenzen. Und obendrein die Geburtenrate durch eine striktere Familienplanung senken.

Für Außenstehende ist sie fast so schwer verständlich wie das „Schwiizerdütsch“: Die föderale Struktur mit den 2396 Gemeinden und 26 mächtigen Kantonen gilt als ein Erfolgsgeheimnis der Eidgenossen. „Die Schweiz ist von unten nach oben gebaut“, erklärt Wirtschaftsminister (Bundesrat) Johann Schneider-Ammann. Der KURIER hat im Zuge eines zweitägigen Arbeitsbesuchs von Wirtschaftskammer-Chef Christoph Leitl in der Schweiz nachgefragt.

Zur Wirtschaftslage: Unsere Ausgangssituation ist gut, wir dürfen aber nicht überheblich werden. Die schwächelnde Eurozone dämpft auch unsere Aussichten.
Budget: Wir erzielen Haushaltsüberschüsse, die Staatsverschuldung sinkt – dank der (2002 eingeführten) Schuldenbremse, die als Disziplinierungsinstrument wirkt.
Nein zur Zuwanderung: Im Februar haben 50,3 Prozent der Schweizer für ein Nein zur Masseneinwanderung gestimmt. Bis Winter 2014 soll es im Parlament eine Gesetzesvorlage geben, die den Volkswillen umsetzt: Kontingente für Zuwanderer, Vorrang für Inländer, Berücksichtigung von Wirtschaftsinteressen.

Beziehungen zur EU: Das ist die Quadratur des Kreises. Parallel zur Umsetzung der Einwandererinitiative müssen wir die bilateralen Verträge mit der EU sichern, die an der Personenfreizügigkeit hängen. Wir haben bis Februar 2017 Zeit. Ob das Volk erneut befragt wird? Das kann ich noch nicht beantworten.

Innovationspolitik: Ja, die Schweiz liegt auf Platz eins, aber das birgt das Risiko, selbstgefällig zu werden. Deshalb gründen Bund und Kantone gemeinsam Innovationsparks, wo Unternehmen und Labors mit enger Anbindung zu den Hochschulen angesiedelt werden.

Zu Russland: Wir setzen die EU-Sanktionen nicht 1:1 um, stellen aber mit Meldepflichten sicher, dass wir nicht zur Umgehung benutzt werden. Die Schweiz hat eine große Zulieferindustrie. Einige Zweige spüren, dass die EU gewisse Ausfuhren nicht zulässt.

Unfaire Steuerpolitik: Ja, es gibt internationale Kritik. Wir arbeiten an einer Unternehmensteuerreform, damit unsere Pauschalsteuer und die von Kanton zu Kanton unterschiedliche Gewinnsteuer akzeptiert werden. Wir wollen aber attraktiv bleiben und müssen Ausfälle kompensieren. Die Lösung ist noch offen, Stichworte in der Debatte sind eine Lizenzbox (Steuervergünstigungen für Patentrechte und Lizenzgebühren, Anm.) oder eine Kapitalgewinnsteuer.

Steuerwettstreit: Das föderale System bleibt bewusst erhalten, der Steuerwettbewerb der Kantone wird nicht abgeschafft. Es soll aber einen Rahmen durch den Bund geben.

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