Neuer IHS-Chef Bonin: "4-Tage-Woche ist ein Wohlstandsphänomen"
KURIER: Sie sagen, der Markt regelt nicht alles, aber der Staat auch nicht. Soll das ihre neutrale politische Haltung ausdrücken oder bezieht sich das auf Inhaltliches, wie den Kampf gegen Pandemie und Inflation?
Holger Bonin: Es zeigt, wie ich als Volkswirt grundsätzlich denke. Mein Job als Arbeitsmarktökonom wäre schnell beendet, wenn der Markt alles regelte. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gibt es nur, weil Märkte nicht reibungslos funktionieren. Wie viel Markt und wie viel Staat nötig ist, muss man dann im Einzelfall empirisch bewerten.
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Ungleichheit und Bildung sind zwei ihrer Lieblingsthemen. Teilen Sie den Befund, dass durch die Pandemie Ungleichheit und Bildungsprobleme zugenommen haben?
Unbedingt. Die Schulschließungen haben die Entwicklungsrückstände von Kindern aus sozial schwachen Familien vergrößert. Junge Menschen hatten vermehrt Schwierigkeiten mit der Berufsausbildung und dem Berufseinstieg. Aus früheren Krisen wissen wir: Das kann berufliche Karrieren noch viele Jahre belasten.
Und die Inflation?
Die ist teils auch ein „Long-Covid“-Effekt, wegen der zerbrochenen Lieferketten, und weil jetzt Konsum nachgeholt wird. Menschen mit wenig Einkommen verwenden Geld praktisch komplett für den täglichen Bedarf und die Miete. Sie leiden daher besonders unter der hohen Inflation. Und es hat nicht geklappt, sie treffsicher zu entlasten.
Thema Mobilität. Köche aus Wien wollen nicht nach Westösterreich. Liegt das nur an den Löhnen?
Gute Löhne und Arbeitsbedingungen sind schon wichtige Faktoren, und manche Arbeitgeber müssen wohl noch lernen, dass sie hier mehr tun müssten. Bei Arbeitslosen könnten höhere Mobilitätshilfen zusätzliche Anreize setzen. Es gibt aber auch ein Informationsproblem. Beschäftigte unterschätzen oft die Vorteile eines Arbeitgeberwechsels. Und es ist eine Einstellungsfrage: Viele wollen lieber ihr soziales Umfeld oder ihre Wohnung behalten, als sich beruflich zu verbessern. Österreich ist nicht Amerika, wo man der Arbeit hinterherzieht.
Was soll der Hotelier in Tirol konkret tun, der trotz guter Arbeitsbedingungen keinen Koch findet?
Kurzfristig: Noch stärker außerhalb werben, die Reichweite Sozialer Medien nutzen. Speisekarte anpassen, mehr Vorprodukte verwenden, um Arbeit zu sparen. Langfristig: ausbilden.
Wie sehen Sie den Boom der Teilzeitjobs? Wie kann man Vollzeit attraktiver machen? Die Teilzeitquote spiegelt zu einem Gutteil die wachsende Erwerbsbeteiligung von Frauen. Sie können wegen Sorgearbeit in der Familie oft nicht länger bezahlt arbeiten. Mehr hochwertige Betreuungsangebote und die Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen könnten diese Hürden senken. Daneben gehören Fehlanreize, die Teilzeit gegenüber Vollzeit attraktiver machen, auf den Prüfstand. Ein weiterer Ansatzpunkt wäre ein weniger progressiver Steuertarif, aber primär sehe ich die Arbeitgeber in der Pflicht, Vollzeitkräfte und Mehrstunden angemessen zu entlohnen.
Viele Menschen fühlen sich aber auch ausgelaugt.
Das stimmt. Hier muss man an die Arbeitsbedingungen ran. Die könnte der Staat als Arbeitgeber in den für die Gesellschaft wichtigen Bereichen wie Erziehung, Schule, Gesundheit und Pflege direkt anpacken. Das wird nicht zum Nulltarif zu haben sein.
Reicht das alles, wenn gerade junge Menschen eine Work-Life-Balance einfordern?
Wir sollten uns darauf einstellen, dass die Wochenarbeitszeit wegen veränderter Lebensentwürfe weiter sinkt. Man sieht das an der zunehmenden Diskussion über die 4-Tage-Woche. Dieser Trend ist ein Wohlstandsphänomen. Vor allem gut qualifizierte Menschen sind heute oft materiell so gut gestellt und produktiv, dass sie es sich leisten können, weniger zu arbeiten. Dagegen kommt man mit finanziellen Anreizen kaum an.
Also hilft gegen den Arbeitskräftemangel nur mehr Zuwanderung ...
Ohne Zuwanderung wird es nicht gehen, aber allein mit Zuwanderung auch nicht. Die Entwicklung geht in den reichen Volkswirtschaften fast überall in die gleiche Richtung, und der globale Pool an passend qualifizierten international mobilen Fachkräften ist schlichtweg zu klein, um jeden Bedarf zu bedienen. Hinzu kommt: Österreich hat im globalen Wettbewerb um mobile Arbeitskräfte wie Deutschland einen Sprachnachteil, und dürfte zudem wegen seiner geringen Größe häufig unter dem Radar bleiben. Darum muss man neben Migration auch auf neue Technologien setzen.
Das bedeutet?
Um Wertschöpfung zu sichern, müssen wir die verbleibenden Arbeitskräfte durch Arbeit sparenden technischen Fortschritt produktiver machen. Die laufende Transformation der Arbeitswelt durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz begreife ich deshalb als Chance und nicht als Bedrohung. Zwar werden dadurch einige Arbeitsplätze, vor allem stark von Routine geprägte, überflüssig werden. Wenn es dadurch in Zukunft weniger niedrig entlohnte und weniger Bullshit-Jobs (Sinnlos-Arbeit, Anm.) gibt, ist das aber ein gesellschaftlich durchaus erwünschter Fortschritt. Allerdings braucht es flankierend eine breit angelegte Qualifizierungsinitiative, damit sich die Betroffenen in anspruchsvollere Tätigkeiten hineinentwickeln können.
Wo hat Österreich Schwächen?
Ich bin zu kurz hier, um das angemessen zu beantworten. Was mir aber gleich aufgefallen ist: Im Umgang mit der Inflation tut man sich schwerer als in Deutschland. So halten die Sozialpartner an Tariflaufzeiten von 12 Monaten fest, im deutschen Öffentlichen Dienst wurde gerade, wenn auch unter Schmerzen, für 24 Monate abgeschlossen. Außerdem gibt es viele Wertsicherungsklauseln, durch die sich die Preisschraube automatisch weiterdreht.
Was kann man da tun?
Da es meist um private Verträge geht, hat der Staat wenig Zugriff. Dennoch halte ich eine Debatte über die richtige Indexierung für sinnvoll. So erscheint mir die Bindung von Mieten an den allgemeinen Verbraucherpreisindex wenig sachgerecht. Für viele Vermieter dürfte die effektive Teuerungsrate niedriger sein. Daneben würde der Mietpreisdruck sinken, wenn mehr Wohnungen auf den Markt kämen.
Zur Person
Holger Bonin (54)
Der deutsche Ökonom übernimmt am 1. Juli 2023 die wissenschaftliche Leitung des Wiener Instituts für Höhere Studien (IHS). Er folgt damit Klaus Neusser nach, der das IHS nach dem Wechsel von Martin Kocher (2021) in die Bundesregierung interimistisch geleitet hat.
Bonin hat als Forschungsschwerpunkte Arbeitsmarkt und Sozialpolitik. Aktuell ist er Forschungsdirektor des Instituts zur Zukunft der Arbeit in Bonn (seit 2016) und lehrt gleichzeitig als Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Kassel (seit 2012). Bonin hat in unterschiedlichen Positionen die deutsche Bundesregierung beraten.
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