"Muss spürbaren Unterschied zwischen dem Einkommen und Arbeitslosengeld geben"

August Wöginger
ÖVP-Klubchef über das degressive Arbeitslosengeldmodell, warum er um den Aufschwung fürchtet und gegen Boni fürs Impfen ist.

KURIER: Derzeit sind knapp 60 Prozent der Menschen in Österreich vollständig geimpft. Als Sozialsprecher gefragt: Wie wollen Sie die Quote erhöhen – mehr durch Belohnung oder Bestrafung?

August Wöginger: Eines vorweg: Wir wissen, dass uns nur die Impfung im Kampf gegen die Pandemie hilft. Und ehrlich gesagt: Dabei ist mir alles recht.

Auch ein 100 Euro Bonus oder ein Gutschein für die Nachtgastronomie bei Jungen?

Nein, keine Bezahlung. Das wäre jenen 5,5 Millionen Österreichern gegenüber unfair, die sich für die Impfung angemeldet, darauf gewartet und nichts dafür bekommen haben. Dass man unbürokratisch im Bus, Supermarkt oder Shopping-Center versucht, noch mehr Menschen zu impfen, das halte ich für richtig.

Ab dem Tag X etwas für die Impfung zu verlangen, um mehr Menschen zu motivieren, war nie angedacht?

Wir haben über alles nachgedacht, schließlich zahlen wir auch für die Zeckenimpfung. Aber ich halte diesbezüglich weder etwas von Belohnung noch von Bestrafung.

Italien überlegt eine Impfpflicht. Warum schließt die ÖVP das kategorisch aus, wiewohl Kurz stets betont, dass das Virus noch Jahre bleiben wird.

Wir bleiben bei unserer Linie: Wir wollen keine gesetzliche Impfpflicht einführen. Die Freiheit des Einzelnen, diese Entscheidung zu treffen, soll jede und jeder haben.

Für viele sind die jetzt präsentierten Regeln nichts anderes als eine versteckte Impfpflicht.

Es ist alternativlos, wenn wir die Spitalsbettenbelegung weiter im Griff haben wollen.

Ein Gastronom darf wissen, ob ich geimpft bin oder nicht. Dem Arbeitgeber kann ich das de facto verschweigen. Warum ist dieser rechtliche Bereich nicht geregelt? 

Wir befinden uns in juristischem Neuland, das ist keine Frage. Es gibt aber gute Kooperationen zwischen Arbeitgebern und Betriebsräten in Unternehmen, dass diese Daten auf freiwilliger Basis weitergegeben werden. Ich appelliere an die Solidarität jedes einzelnen, dass man sich nicht verschweigt.

Themenwechsel. Bis 2030 fehlen bis zu 100.000 Pflegekräfte. Wie lange wollen Sie sich mit der Pflegereform noch Zeit lassen?

Corona und der Gesundheitsministerwechsel von Anschober auf Mückstein haben zu einer Verzögerung der Reform geführt. Wir werden, das ist mein Ziel, noch heuer die Ausbildungsoffensive und Pflegelehre präsentieren können. Rund 10.000 Menschen sind über das AMS in einer Ausbildung zur Pflegefachkraft.

Fehlen immer noch 90.000 in neun Jahren. Können Sie einem Bonus, wie von der SPÖ vorgeschlagen, etwas abgewinnen oder einem fixen Gehalt während der Ausbildung?

Wir werden mit den zuständigen Ministern Kocher und Mückstein alles tun, damit wir zusätzliche Fachkräfte bekommen.

Also kein klares Ja oder Nein. Gibt es ein klares Bekenntnis zu einem degressiven Arbeitslosengeld-Modell?

Alle Expertinnen und Experten sagen uns, dass es sinnvoll ist, zu Beginn ein höheres Arbeitslosengeld zu haben, das nach einiger Zeit auf das derzeitige Niveau fällt. Unter 55 Prozent der Nettoersatzrate wird das Arbeitslosengeld nicht sinken, dazu haben wir uns bekannt. Durch das Modell soll jedenfalls ein Anreiz geschaffen werden, schneller Arbeit zu finden, ehe man auf die 55 Prozent herunterfällt.

70 Prozent zu Beginn sind für Sie vorstellbar?

Über konkrete Prozentsätze diskutieren wir erst. Es muss jedenfalls einen spürbaren Unterschied geben zwischen dem Erwerbseinkommen und dem Arbeitslosengeld oder der Notstandshilfe. Auch der Fall von 65 auf 55 Prozent kann schon wehtun. Jeder, der gesund ist und arbeiten kann, der soll auch arbeiten gehen.

Das scheint das neue Arbeitsmarkt-Credo der ÖVP zu sein. Heißt das, die Zumutbarkeitsbestimmungen werden jedenfalls verschärft?

Es geht gar nicht so sehr darum, die Zumutbarkeit zu regeln. Wir haben 100.000 offene Stellen quer durch Österreich verteilt und kein Ost-Westgefälle mehr wie früher. Es werden nicht nur Fach-, sondern auch Hilfskräfte gesucht. Uns geht es darum: Wer als Arbeitssuchender ein Angebot bekommt, das auf ihn zugeschnitten ist, von dem erwarten wir, dass er dieses Angebot annimmt.

Und wenn mehrfach ein Job ablehnt wird, dann muss der Betreffende mit Restriktionen wie Leistungskürzungen rechnen?

Die gibt es jetzt schon. Wir erwarten uns, dass diese auch umgesetzt werden, denn es kann nicht sein, dass man Jobs in Permanenz ablehnt.

Ist die Zahl jener, die Jobangebote ausschlagen, denn größer geworden oder warum betont die ÖVP die Arbeitswilligkeit besonders?

Viele fragen sich, warum wir in Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs 100.000 offene Stellen haben – von der Dunkelziffer, also jenen Stellen, die gar nicht beim AMS gemeldet sind, gar nicht zu reden. Wir haben haufenweise freie Hilfsjobs in der Gastronomie oder Bauwirtschaft, die wir nicht besetzen können. Wenn wir die Stellen langfristig nicht besetzen können, gefährden wir den möglichen Aufschwung.

Sind Sie für den Vorstoß von AMS-Chef Kopf, die Zuverdienstmöglichkeit von bis zu 475 Euro zu streichen? ÖGB-Boss Katzian kann dem gar nichts abgewinnen.

Ich bin dafür, nicht immer gleich die Keule zu schwingen, sondern sich gemeinsam hinzusetzen und alles zu diskutieren. Dazu gehört auch die Zuverdienstgrenze. Wir wollen keine Modelle, die es attraktiv machen, in der Arbeitslosigkeit, Sozial- oder Notstandshilfe zu verbleiben.

Die SPÖ tritt für eine AMS-Jobvermittlung ab 1.700 Euro brutto ein …

… ich habe mir abgewöhnt, als Gesetzgeber über Löhne zu diskutieren. Wir haben eine funktionierende Sozialpartnerschaft und einen Generalkollektivvertrag mit 1.500 Euro. Die Diskussion über Mindestlöhne ist mit den Sozialpartnern zu führen. Ich sehe Unternehmen, die wachsen könnten, aber keine Mitarbeiter finden, die das möglich machen. Dieses Problem müssen wir lösen.

Apropos Problem: Wie viele hat die Koalition derzeit?

Die Stimmung in der Koalition und die Zusammenarbeit auf Parlamentsebene mit Klubchefin Maurer ist gut. Die Partnerschaft funktioniert, wie man am Erneuerbaren Ausbaugesetz sieht und an der ökosozialen Steuerreform sehen wird.

Wie ist die Beziehung zum Ex-Koalitionspartner FPÖ?

Wir haben mit der FPÖ in den zwei Jahren gut zusammengearbeitet. Es gibt einen, der derzeit nichts dazu beiträgt, dass es besser werden könnte und das ist der Parteiobmann Klickl.

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