Der Kult ums Schweizer Messer: Mehr als ein Feitl
Wer in den 1980er Jahren aufgewachsen ist, hatte verlässlich zwei Dinge mit dem Serienhelden MacGyver gemein: Einen Vokuhila (Frisurmodell: vorne kurz, hinten lang) und ein Schweizer Taschenmesser. Letzteres eignete sich besonders zum Angeben – im Schulhof wie im Zeltlager. Je mehr Funktionen, desto besser.
Das Überdrüber-Modell protzt mit 141 Funktionen – vom Allzweck-Schraubenschlüssel bis zum Korkenzieher. Alles, was man als Volksschüler so im Alltag braucht. In der Hosentasche liegt dieses Modell zugegebenermaßen etwas schwerfällig. 1,4 Kilogramm (siehe Bild oben). Mehr etwas für die Vitrine von Sammlern als zum Mitnehmen. Aber wer braucht heute überhaupt noch ein Taschenmesser? Pilzsammler auf Beutezug? Holzschnitzer? Jene, die nervös werden, wenn bei irgendwem ein Faden vom T-Shirt weghängt? Teilnehmer von Überlebenstrainings?
Carl Elsener hat einen dunklen Anzug an, Brille auf der Nase, Aktentasche in der Hand, am Gürtel eine Silberkette. Dran hängt das Schweizermesser, das er aus seinem Hosensack zieht. Nagelschere, Wecker, Barometer, Kugelschreiber, Taschenlampe, Höhenmesser, Uhr – alles inklusive. „Die Nagelschere brauche ich am häufigsten. Damit habe ich meinen Kindern schon am Kilimandscharo die Fingernägel geschnitten“, behauptet Elsener.
Dann kam 9/11
Das Messer gehört zu seiner Familie. Seit vier Generationen. Sein Urgroßvater hat die Schweizer Messerschmiede 1884 gegründet, die heute unter den Namen Victorinox firmiert und 10 Millionen Taschenmesser im Jahr verkauft. Elsener: „In unsicheren Zeiten steigt der Umsatz immer. Das hat man unter anderem in Japan nach Fukushima gesehen.“
Anders die Situation nach 9/11. Mit den Zwillingstürmen des World Trade Centers sind quasi über Nacht die Umsätze mit Taschenmessern eingebrochen. Plötzlich durfte man damit in kein Flugzeug mehr einsteigen. Zu groß die Gefahr, dass man damit die Maschine kidnappt. Eine Sicherheitsmaßnahme, die das Duty-Free-Geschäft ausradiert hat und damit ein Drittel des Umsatzes von Victorinox und Konkurrenten (wie Wenger, ein Schweizer Familienbetrieb, den Victorinox in der Folge des Terroranschlags übernommen hat).
Der Umsatz mit Taschenmessern ist nie wieder über das Niveau von 9/11 gekommen, sagt Elsener. Diese machen aber nur 36 Prozent des Gesamtumsatzes von 400 Millionen Euro aus. Fast gleich viel kommt von Haushalts- und Berufsmessern (34 Prozent), wie sie Hobbyköche und Fleischhauer kaufen. Oder Kunden aus dem arabischen Raum, die sich ihre Tranchiermesser bei Gelegenheit auch gleich mit Diamanten besetzen lassen. Victorinox macht so etwas in Zusammenarbeit mit Schmuck-Marken wie Cartier. Kostenpunkt angeblich 80.000 Euro. Mondpreise quasi.
Unbezahlbare Werbung
Apropos. Astronauten der NASA haben auch standardmäßig ein Schweizer Messer mit. „Never leave the planet without one“, soll Astronaut Chris Hadfield gesagt haben, als er in MacGyver-Manier mit dem Schweizer-Messer die Luke seiner Raumfähre aufgekratzt hat und so an die Raumstation Mir andocken konnte. Unbezahlbare Werbegeschichte. Elsener behauptet, sie sei genauso passiert und er selbst habe erst viel später und nur zufällig davon erfahren. „Man könnte keine Agentur für einen besseren Satz bezahlen“, sagt der Unternehmer. Er lächelt selig. So wie oft, wenn er von seinem Vater erzählt. Der hat wie er Carl geheißen. So auch der Großvater. Nur der Urgroßvater hatte einen anderen Vornamen: Karl.
Der Firmenchef spricht leise, wirkt fast schüchtern. Typisches Schweizer Understatement. Bescheidenheit scheint der Familie in die Wiege gelegt. Elsener hat eine große Schwester und zehn jüngere Geschwister. Klingt nach Patchwork-Familie, ist es nicht. Ein Vater, eine Mutter. „Unvorstellbar heute, oder? Zum Mittagessen waren wir immer alle Zuhause, 13 Menschen am Tisch“, sagt der heute 64-Jährige.
Eine Firma mit Millionenumsätzen, elf Geschwister. Das klingt nach programmiertem Erbschaftsstreit, dem Anfang vom Ende. Nicht in den Schweizer Bergen. Carl Elseners Vater hat all seine Kinder dazu gebracht, ihre Firmenanteile in eine Stiftung zu übertragen. Hohe Dividendenzahlungen konnten sie sich damit aufmalen. Geld bekommt nur, wer in der Firma arbeitet. Aktuell acht Geschwister sowie acht ihrer Nachfahren. Klingt viel, ist bei 2.100 Mitarbeitern weltweit relativ.
Billigvarianten aus China
Und es geht schon lange nicht mehr nur um Messer. 17 Prozent vom Umsatz kommen aus den Verkauf von Koffern und Taschen, 10 Prozent von Uhren, drei von Parfüms. Wilde Mischung, die sich Elsener in den 1980er Jahren noch gemeinsam mit seinem Vater überlegt hat. Damals hat die Billigkonkurrenz aus Asien zugenommen, die wohl bis heute der größte Konkurrent des Schweizermessers ist – Klagen wegen Markenrechtsverletzungen hin oder her. „Unser Problem war, dass die Marke nicht sichtbar war. Unser Messer steckten ja in Taschen und Hosensäcken. Wir mussten sie sichtbar machen. Deswegen die Idee, Koffer unter unserer Marke zu verkaufen.“
Bleibt die Frage, für wen 10 Millionen Taschenmesser im Jahr produziert werden. Nicht nur für Touristen und Firmenkunden. Auch für 16 Armeen rund um den Erdball – von Deutschland über Malaysia bis Australien und natürlich die Schweiz. Alle mit Wunsch-Funktionen. Jene für die Soldaten in Singapur soll 33 Funktionen haben – und sich damit weniger für Einsätze als zum Angeben eignen.
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