Lieferdienste machen Supermärkten zunehmend Konkurrenz
Die Angreifer haben Apps, sie verfügen über dezentrale Lagerräume und eilen auf Rennrädern, mit Elektrorollern oder eigens entwickelten Elektro-Lieferwagen über die Straßen. Ihr Ziel: Sie wollen den mächtigen deutschen Lebensmittelhändlern Kunden abjagen. Und dabei kommen sie in der Pandemie gut voran. Auch in Österreich boomt seit Beginn der Coronapandemie die Lebensmittelzustellung. Vor allem in Wien sind immer mehr Anbieter aktiv.
Anteil wird größer
Neben den großen Supermarktketten Billa und Interspar kämpfen Alfies, Gurkerl.at, Hausfreund und Mjam in Wien um Marktanteile. Österreichweit stellt derzeit nur Billa Lebensmittel zu, Unimarkt kann rund 80 Prozent der Haushalte abdecken und Interspar liefert im Großraum Wien sowie Salzburg Stadt und Umgebung. Der Lebensmitteldiskonter Hofer prüft Konzepte für die Lebensmittelzustellung, hat aber noch keine Entscheidung getroffen.
In Deutschland wuchs der Online-Handel mit Lebensmitteln von 2019 bis 2020 um knapp 60 Prozent, so der Einzelhandelsverband HDE. Damit legte er deutlich schneller zu als andere Bereiche des ohnehin boomenden Handels über das Internet. Doch noch ist die Basis klein: Gerade einmal zwei Prozent des 204 Mrd. Euro schweren deutschen Einzelhandels mit Lebensmitteln wurden online abgewickelt.
Inzwischen zweifelt kaum jemand in der Branche daran, dass dieser Anteil am Kuchen größer wird. "Die Pandemie hat die Akzeptanz für Lieferdienste in der Gesellschaft weiter beschleunigt", sagt Flink-Sprecher Simon Birkenfeld, dessen Lieferdienst die Gunst der Stunde für eine Finanzierungsrunde in Höhe von 240 Mio. US-Dollar (197 Mio. Euro) nutzte und mit der deutschen Billa-Mutter Rewe kooperiert. Der Handelskonzern ist mit einer Minderheitsbeteiligung bei Flink eingestiegen und beliefert den Dienst nun mit Waren.
Manche Akteure sehen bereits das Ende des klassischen Wochenendeinkaufs im Supermarkt eingeläutet. Der Gründer und Chef des inzwischen mit einer Milliarde Dollar bewerteten Blitz-Lieferdienstes Gorillas, Kagan Sümer, rechnet damit, dass der Trend zum Online-Einkaufen erst nach der Coronakrise richtig Fahrt aufnimmt: "Die Menschen werden wieder weniger Zeit haben und noch mehr Lebensmittel online bestellen."
Sportlicher Ehrgeiz
Das im März 2020 gegründete Start-up ist in sechs Ländern aktiv und radelt in mehr als 30 europäischen Großstädten sowie New York mit Anbietern wie Flink, Dija, Getir oder Weezy um die Wette, um den Einkauf innerhalb von Minuten nach der Order an die Haustür zu bringen. Gorillas will auch nach Österreich expandieren und war Mitte Mai auf der Suche nach einem "Head of Expansion".
Die langen Lieferzeiten seien bisher die größte Hürde gewesen, um online Lebensmittel zu kaufen, sagt Ben Kaminski vom Finanzinvestor Target Global, der unter anderem in Flink investiert hat. Die neuen Anbieter zielten darauf ab, Kunden möglichst täglich mit Produkten vergleichbar zum lokalen Supermarkt zu bedienen - und das so schnell wie möglich - mit Hilfe von über die Innenstädte verteilten Mini-Lagern.
Mit sportlichem Ehrgeiz und lauter Musik in den Lagern, wo Produkte nach Uhrzeit und häufigster Bestellkombination nebeneinander aufzufinden sind, holen sich die zumeist männlichen Fahrradkuriere von Gorillas ihre Bestellungen nach einem ausgeklügelten und auf Effizienz getrimmten System ab, um die Produkte dann immer mit einem Auge auf der Uhr zu den Kunden zu bringen. Auf häufigsten transportieren sie Bananen.
Maximales Wachstum
"Das ist unser Bestseller - noch vor Bier", sagt Leiterin des Gorillas-Lagers im Berliner Stadtteil Pankow, die ihren Namen nicht in der Presse lesen möchte. Einen typischen Kunden gebe es nicht, sagt der 33-jährige Sümer, der bereits für Bain & Company und Rocket Internet arbeitete und vor zwei Jahren in die deutsche Hauptstadt kam. "Wir nehmen Online-Supermärkten und traditionellen Supermärkten die Kunden weg."
Ein Problem teilen die neuen Blitzlieferdienste wie Gorillas oder Flink mit Essenslieferdiensten wie Delivery Hero und Just Eat Takeaway.com, die inzwischen ebenfalls das Feld beackern, und mit Online-Anbietern wie Bringmeister und dem Lieferdienst Picnic. Sie müssen eine Antwort auf die Frage finden, wie sie mit ihrem Geschäft angesichts hoher Personalkosten und niedriger Margen im Lebensmittelhandel Geld verdienen. Picnic setzt dabei auf feste Lieferzeiten nach dem Vorbild des Milchmanns aus den 50er Jahren. Damit will das Unternehmen, das mit Edeka kooperiert, Kosten drücken.
Gorillas und Co legen maximales Wachstum in die Waagschale. Der in Istanbul geborene Sümer jedenfalls ist zuversichtlich, das Rezept gefunden zu haben: "Wir sehen einen klaren Pfad hin zu Profitabilität. Alles hängt vom Wachstum und den Produkten ab." Investoren jedenfalls stehen mit tiefen Portemonnaies hinter der Strategie und befeuern den Trend mit viel Geld. Investor Kaminski sagt: "Wir glauben, dass Blitz-Lieferdienste das Potenzial haben, den Lebensmitteleinkauf zu verändern."
Anders sieht es bei den etablierten weltweit tätigen Essenslieferdiensten wie Delivery Hero und Just Eat Takeaway.com aus, die den jungen Angreifern nun nicht das Feld überlassen wollen und dafür Gewinne hintenanstellen.
Der in Berlin ansässige DAX-Konzern Delivery Hero jedenfalls sorgte mit seiner Ankündigung, nach zweieinhalb Jahren wieder auf den deutschen Markt für Restaurantessen wie auch für Lebensmittellieferungen zurückzukehren, für Entsetzen. "Durch dieses Vorhaben wird sich die Profitabilität tendenziell verschlechtern und der Break-Even weiter nach hinten verschoben", sagte Manuel Mühl von der DZ Bank.
Ergänzung
Experten gehen indes davon aus, dass die Lieferdienste auf absehbare Zeit den großen Supermarktketten im hart umkämpften und von Kampfpreisen geprägten deutschen Lebensmittelhandel nicht ernsthaft das Wasser abgraben können: "Aus Kundensicht ist es eine Ergänzung", sagt Lars Hofacker, Leiter des Forschungsbereichs E-Commerce am Kölner EHI-Institut: "Wenn die Verbraucher ganz schnell etwas brauchen - und das ist dann nicht der Wochen-Einkauf - gibt es Gorillas & Co", analysiert er. "Die neuen Dienste ersetzen noch keine Supermärkte, sie ergänzen sie vielmehr", prognostiziert Hofacker: "Ich sehe es aktuell nicht als Gefahr für den traditionellen Einzelhandel mit Lebensmitteln."
Und dieser könnte andererseits sogar vom Ende der Coronakrise profitieren. "Die digitale Covid-Dividende hat ihren Höhepunkt erreicht. Vielen sehnen sich nach physischer Nähe und werden - zumindest teilweise - wieder zu ihren bevorzugten analogen Kanälen zurückkehren", fasst Gerard Richter von McKinsey die Ergebnisse einer Digital-Studie zusammen.
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