Mitarbeiter führen sich selbst: "Eine Verarschung"

Demokratische Unternehmen kriegen Preise, sind aber meist Heuchler, meint Stefan Kühl. Mitarbeiter fühlten sich verarscht
Die Mitbestimmung in Unternehmen geht nach hinten los, sagt Soziologe Stefan Kühl.

Firmen, in denen die Mitarbeiter sich selbst führen, in denen es flache oder sogar keine Hierarchien gibt, sind nicht die Zukunft, sondern Mogelpackungen mit Ablaufdatum, sagt der deutsche Soziologe Stefan Kühl.

KURIER: In Zukunft führen die Mitarbeiter die Unternehmen, die Hierarchien werden komplett abgeschafft. Klingt doch gut, oder?

Stefan Kühl: Das sind attraktive Beschreibungen. Sie haben mit der Realität aber wenig zu tun.

Also ist das reine PR?

Ja, diese Vorreiterunternehmen betreiben Eigen-PR. Wir hatten die gleiche Debatte schon in den 1990ern, mit den teilautonomen Gruppenarbeiten und 2000 mit den Start-ups der New Economy. Vor 15 Jahren haben wir eine Studie in drei Vorreiterunternehmen gemacht. Die Mitarbeiter durften sich in der Produktion selbst organisieren. Nach zwei bis drei Jahren wurde das in allen drei Unternehmen abgeschafft – und zwar auf Initiative der Mitarbeiter. Heute fangen Unternehmer zwischen 30 und 40 mit der Abschaffung der Hierarchien an. Es zeichnet sich ab, dass sie ebenso auf die Schnauze fallen. Der blinden Euphorie wollen wir Soziologen etwas entgegensetzen.

Mitarbeiter mitbestimmen zu lassen ist doch nicht per se schlecht?

In demokratischen Firmen heißt es: entscheide selbst, aber mit Vorbehalt. Die Geschäftsführer behalten sich Vetorechte vor und malen sich nur anders an. Solange die Mitarbeiter nicht am Kapital beteiligt sind, produziert man Widersprüchlichkeit. Die Mitarbeiter entscheiden ja in der Regel gar nicht selbst, dass sie selbst entscheiden sollen – die Revolution wird nicht von unten gemacht, sondern von oben. Ich halte es für eine Verarschung der Mitarbeiter, zu sagen, sie sind die neuen Machthaber. Wenn es hart auf hart kommt, sieht man, wer die eigentlichen Machthaber sind.

Flache Hierarchien und Mitbestimmung fördern die Motivation.

Alle Unternehmen behaupten heutzutage, sie hätten flache Hierarchien. Ich habe ein Unternehmen mit 5000 Mitarbeitern untersucht, das offiziell nur fünf Hierarchien hatte. Das ist sehr wenig. Aber in Wahrheit waren es 16, die haben die Hierarchiestufen nur versteckt. Hierarchien können andererseits auch extrem flach und gleichzeitig sehr stark sein.

Wie meinen Sie das?

Ein anderes Vorreiterunternehmen gewinnt seit 20 Jahren Preise für Gendergerechtigkeit und flache Hierarchien. In Wahrheit bestimmt die Geschäftsführerin über alle 500 Mitarbeiter. Mitarbeiterinnen erzählten mir: Wenn der Druck von der Chefin zu groß wird, werden sie schwanger. Sieht man genauer hin, entpuppen sich flache Hierarchien als Ermöglichung von Despotie.

Welche negativen Folgen gibt es in Firmen ohne Hierarchie?

Wird eine Gruppe nicht von einem Vorgesetzten geführt, nehmen die Brutalitäten zu. Die, die ihre Leistung nicht erbringen, bekommen viel Druck von den Kollegen. Die neuen Unternehmensformen haben nicht unbedingt Humanitätsvorteile.

Mit Freiraum arbeiten die Mitarbeiter aber kreativer und innovativer, heißt es in diversen Studien.

In Organisationen, die Mitarbeitern mehr Gestaltungsfreiheit geben, sind kleine Innovationen leichter zu verwirklichen. Große Innovationsideen werden aber von den Teams eher zerredet, da kann ein starker Vorgesetzter eher etwas durchsetzen. Denken Sie an Apple: Steve Jobs war sicher ein Despot.

Dem US-Versandhändler Zappos rennen nach der Enthierarchisierung angeblich die ehemaligen Manager davon. Verkraften sie den Machtverlust nicht?

In demokratischen Organisationen ist die Personalfluktuation deutlich höher. Vielleicht ist den Mitarbeitern das Klima zu brutal. Hierarchien sind oft mit Druck und Mobbing verbunden, bieten aber auch Schutz über formelle Wege. Mit 10, 15 Mitarbeitern kann man die Enthierarchisierung noch machen. Aber bei über 50 Mitarbeitern kommt kein Unternehmen ohne Hierarchie aus. Das hängt mit einer Komplexitäts- und Kommunikationsüberforderung zusammen. Doch die demokratischen Unternehmen erklären oft, dass die Mitarbeiter noch nicht so weit sind.

Ein Nachteil dürften auch die vielen Meetings sein, in denen die Mitarbeiter gemeinsam entscheiden?

Ja. Und irgendwann diskutieren die Mitarbeiter darüber, wer nicht mehr unbedingt mitreden muss. Das ist der erste Schritt in Richtung Abteilung. Dann werden Personen ausgesucht, die gut mit den Kollegen kommunizieren – der erste Schritt in Richtung Hierarchie.

Was ist die Lösung? Sind doch steilere Hierarchien besser?

Weder sind steile Hierarchien gut, noch ihre Abschaffung. In Krisensituationen muss man die Hierarchie straffer ziehen, in guten Phasen wieder freier laufen lassen. Demokratische Unternehmen produzieren in Krisenzeiten zynische Mitarbeiter. Weil die Diskrepanz von dem, was nach außen dargestellt und was nach innen gelebt wird, zu groß wird.

Was wäre Ihre Forderung?

Weniger Heuchelei von den Vorreiterunternehmen. Und weniger Naivität der Wirtschaftsjournalisten.

Mitarbeiter führen sich selbst: "Eine Verarschung"
honorarfrei - Stefan Kühl, Metaplan,
Stefan KühlGeboren 1966, wurde er als Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld auf Organisationssoziologie spezialisiert. Seit 1992 arbeitet er als Berater bei Metaplan. Er berät Konzerne, Start-ups und Ministerien zur Organisationsentwicklung.

Bücher „Wenn Affen den Zoo regieren – die Tücken der flachen Hierarchien“ ist soeben in überarbeiteter 6. Auflage erschienen. In „Sisyphos und Management“ (2. Aufl.) beschreibt Kühl die Suche nach der besten Firmenstruktur (beides im Campus Verlag erschienen).

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