Es sind viele Frauen, die ihre Stimme erheben. Sie sollen dem Frontmann der Band Rammstein gezielt zugeführt worden sein. Für unfreiwilligenSex und das Ausleben eines Machtspiels, das immer, wenn es um Diskriminierung geht, tragend wird. Denn sexuelle Übergriffe sind keine Begleiterscheinung des Rock ’n’ Roll.
Sie kommen überall vor – in der Arbeitswelt und selbst in den „besten“ Firmen. Nur die wenigsten ernten, wie Filmproduzent Harvey Weinstein, eine Verurteilung oder, wie Bild-Chefredakteur Julian Reichelt, zumindest Schlagzeilen. Jedoch sind es prominente Beispiele wie diese, die Betroffene – quer durch alle Branchen – dazu bewegen, nicht länger schweigen zu wollen.
Aktuell auch in Wien: Hier rumort es in der PR-Branche gewaltig. Vorwürfe der sexuellen Belästigung in einer Agentur werden laut – aber (vorerst) nicht offiziell.
Wieder eine Branche, in der es passiert. Bislang waren es hierzulande das Gastgewerbe und der Handel, die sich als besonders problematisch erwiesen haben, sagt Arbeiterkammer-Juristin Jasmin Haindl. Und das, obwohl der Arbeitgeber eigentlich verpflichtet ist, seine Arbeitnehmer zu schützen. Eigentlich. Denn eine gesetzliche Pflicht für Präventionskonzepte gibt es in Österreich nicht, kritisiert Haindl. Genauso wenig wie eine Meldepflicht, wenn Vorfälle beobachtet werden.
150 Fälle sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sind in den vergangenen fünf Jahren bei der Arbeiterkammer (AK) eingegangen. 91 Prozent der Betroffenen waren Frauen. „Man muss schon sagen, das ist die Spitze des Eisbergs“, ordnet Jasmin Haindl ein. Denn die Dunkelziffer liegt vermutlich weit höher. Belästigungen rangieren zwischen Bemerkungen und körperlichen Übergriffen. Was sie alle gemein haben: Die Würde eines Menschen wurde verletzt.
Meist stehen Übergriffe in Zusammenhang mit ungleichen Machtverhältnissen, erklärt Sandra Konstatzky, Leiterin der Gleichbehandlungsanwaltschaft (GAW). Diese würden insbesondere dort vorherrschen, wo die Unternehmenskultur patriarchal geprägt ist, klare Rollenbilder zugewiesen sind und an deren Spitze eine Person steht, der besonders gehuldigt wird. Und deren Verhalten in die gesamte Unternehmenskultur einfließt. Wie das aussehen kann, zeigt sich am Fall Julian Reichelt.
Öffentliche Fälle führen immer zu einem Anstieg der Meldungen, weil Frauen merken, dass sie nicht alleine sind
von Jasmin Haindl Juristin, AK Wien
2021 verlor er seinen Posten als Chefredakteur bei der Boulevardzeitung Bild. Er soll – so schreibt die Süddeutsche Zeitung – „seine Macht als Chef missbraucht und im Zusammenhang mit mehreren Affären mit Mitarbeiterinnen private und berufliche Angelegenheiten in unzulässiger Weise verquickt haben.“
Der Axel-Springer-Verlag stellte sich zunächst hinter seinen Chefredakteur. Sagte aus, „keine Anhaltspunkte für sexuelle Belästigung oder Nötigung“ zu sehen. Doch das System hielt dem öffentlichen Druck nicht stand. Einen Monat später musste Reichelt seinen Platz räumen. Er selbst weist die Vorwürfe bis heute von sich. Keineswegs ungewöhnlich.
Mächtige würden Betroffenen häufig einreden, bei Vorfällen zu sensibel zu reagieren, sagt Sandra Konstatzky. Betroffene würden dem Glauben schenken und sich deshalb oft selbst hinterfragen. Die meisten Anfragen, die die Gleichbehandlungsanwaltschaft deshalb erreichen, sind Auskünfte, ob auch wirklich ein Vergehen vorliegt, berichtet Konstatzky.
Dabei sei allein der Anruf schon ein Anzeichen, dass einem Unrecht widerfahren ist. Aus Erfahrung schlussfolgert die Juristin: „In den meisten Fällen ist es wohl eher sexuelle Belästigung, als dass es keine ist.“
Die Unsicherheit, sexuelle Übergriffe zu melden, ist also groß. Denn die Konsequenzen wiegen schwer. Nicht nur für mutmaßliche Belästiger, sondern auch für Betroffene. In fast allen Fällen kommt es zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses der belästigten Person, zeigt eine Analyse der AK. Bleibt das Arbeitsverhältnis aufrecht, gibt es das Mittel der Versetzung. Auch hier soll es häufig die betroffene Person sein, die weichen muss. „Gegen ihren Willen ist das aber nicht zulässig“, sagt Jasmin Haindl.
Warum Betroffene das Risiko trotzdem auf sich nehmen? „Ein Motiv, das ich höre, ist, andere Frauen schützen zu wollen“, sagt Alexander Stücklberger, Rechtsanwalt bei Brandl Talos. „Oft geht es auch um eine Form von Anerkennung der Vorfälle – also die sexuelle Belästigung bestätigt zu wissen.“
Die Definition
Sexuelle Belästigung ist eine Form von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und (im Gleichbehandlungsgesetz) verboten
Die Belästigung
ist ein Verhalten aus der sexuellen Sphäre, die die Würde verletzt, unerwünscht ist oder das Arbeitsumfeld beeinträchtigt. Näheres erklären Leitfäden der GAW
Die Häufigkeit
200 Betroffene wenden sich jährlich in Österreich an die Gleichbehandlungs-
anwaltschaft. 91 Prozent der Personen, die sich aufgrund von Vorfällen sexueller Belästigung an die Arbeiterkammer wenden, sind weiblich
Die Aufrichtigkeit
Zahlreichen Studien zufolge liegen Falschmeldungen von mutmaßlichen Betroffenen zwischen zwei und zehn Prozent
Die Schadenersatzzahlungen, die häufig in diesen Fällen gerichtlich oder außergerichtlich geleistet werden, sollen wiederum kein Ansporn sein, so Stücklberger. „Ich war noch nie mit einem Fall konfrontiert, in dem Opfer gesagt haben, ich möchte entschädigt werden.“ Hinzu käme, dass Schadenersatzzahlungen oft im unteren vierstelligen Bereich liegen würden. „Die österreichischen Gerichte sind hier sehr zurückhaltend“, so der Anwalt. Kein lukratives Geschäft also, sollte man sich damit bereichern wollen.
Dass Opfern zu wenig Glauben geschenkt wird, beobachtete die GAW früher ohnehin viel häufiger als heute. Immer mehr Unternehmen würden den Umgang mit Vorfällen sexueller Belästigung ernst nehmen, auch wenn laut Jasmin Haindl noch ordentlich „Luft nach oben“ ist.
„Es ist ein Qualitätskriterium geworden, ob Firmen wissen, wie man mit sexueller Belästigung richtig umgeht“, so Konstatzky. Nicht unwesentlich in einer Zeit, in der Arbeitskräfte rar und der Ruf eines Unternehmens ausschlaggebend sein kann, neue Talente für sich zu gewinnen.
Das Gesetz schreibt Arbeitgebern jedenfalls eine sogenannte Abhilfeverpflichtung vor, erklärt Yara Hofbauer des Expertenkollektivs upright. Das bedeutet, dass Arbeitgeber bei Belästigungsfällen umgehend Maßnahmen ergreifen und Betroffene vor weiteren Übergriffen schützen müssen. Bei Kunden und Geschäftspartnern hätte man die Möglichkeit, Hausverbote auszusprechen und Geschäftsbeziehungen zu beenden. Intern ist die Sache komplizierter.
Denn auch für die beschuldigte Person gilt die Fürsorgepflicht. Man darf also keine vorschnellen Maßnahmen (z. B. Entlassung) ergreifen. Oftmals wollen das die Betroffenen des sexuellen Übergriffs auch gar nicht, sagt Rechtsanwalt Stücklberger. Gerade in weniger schwerwiegenden Fällen wäre das Ziel, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Etwa durch Schulungen oder Mediation.
Präventiv eingreifen
Wichtig sei, nichts unter den Teppich zu kehren. Denn Meldungen von Diskriminierungen sind ab einer gewissen Unternehmensgröße rein statistisch gesehen Tatsache, erklärt Hofbauer. „Selbst die konservativsten Studien zeigen, dass mindestens ein Viertel der Frauen am Arbeitsplatz Erfahrungen mit sexueller Belästigung gemacht hat.“
Deswegen wären Unternehmen, die von keinerlei Vorfällen berichten, umso suspekter, so die upright-Expertin. Des Weiteren würde es von einer guten Vertrauensbasis zeugen, wenn Arbeitgebern Vorfälle gemeldet werden. „Es zeigt, dass sich Mitarbeitende sicher genug fühlen, ein unangenehmes Thema anzusprechen“, sagt Hofbauer.
Ich bin überzeugt: Dass es ein Übergriff ist, wissen die, die ihn ausüben und die, die ihn erleben, immer
von Sandra Konstatzky, Leiterin GAW
Was darf man jetzt noch?
Denn unangenehm kann sehr vieles sein. Was die einen als angemessen oder gar charmant empfinden, kann bei anderen als Übergriff wahrgenommen werden. Sandra Konstatzky ist sich jedoch sicher: Findet ein Übergriff statt, sind sich beide Seiten dessen bewusst. Auch wenn das manche von sich weisen wollen, gerne mit den Worten „das war nicht so gemeint.“
Genau hier brauche es Sensibilisierung, sagt Kommunikationstrainerin Regina Jankowitsch. „Zu sagen, so bin ich halt, ist ein Armutszeugnis.“ Wie man sich also angemessen verhält, in einer Arbeitswelt, die immer familiärer und näher zu werden scheint? „Es ist eine Gratwanderung“, so Jankowitsch.
„Gerade in Arbeitskulturen, in denen das Du-Wort im Vordergrund steht, ist es heute schwierig, die Distanz zu halten.“ Jankowitsch selbst habe deshalb als junge Frau mehrfach das Du abgelehnt, erzählt sie. „Und das war gut so.“Auch halbberufliche Settings, etwa der Betriebsausflug oder die Weihnachtsfeier, würden manche dazu verleiten, zu nah zu kommen.
Und kommt es zur leidigen Diskussion, was man heute überhaupt noch sagen darf, gibt es eine einfache Antwort, so Jankowitsch: „Wenn Sie eine Aussage auch ihren engsten weiblichen Verwandten oder ihren Vorgesetzten entgegenbringen würden, kann sie nicht ganz falsch sein.“ Selbiges gilt für Berührungen.
Yara Hofbauer gibt ein Beispiel: Greift ein Chef die Oberarme des Mitarbeiters an und sagt: „Du hast aber trainiert“, könnte er nachher behaupten, dass es sich um ein Kompliment gehandelt habe. Die Frage, die sich der Chef aber stellen muss, ist, ob er sich das auch beim eigenen Vorgesetzten getraut hätte. Im Zweifelsfall rät Hofbauer deshalb: „Wenn etwas im Job nicht unbedingt erforderlich ist, einfach sein lassen.“
Was tun, wenn man betroffen ist?
Als Arbeitgeber ist man in Österreich zwar nicht verpflichtet, eine Beschwerdestelle für Diskriminierungsfälle einzurichten, hat seinen Mitarbeitern gegenüber jedoch eine Fürsorgepflicht. Wenn es also zu einem Fall der sexuellen Belästigung kommt und das Unternehmen keine Prozesse installiert hat, um diese zu behandeln, kann es vor Gericht negativ gegen das Unternehmen ausgelegt werden.
Die Kultur
Um als Arbeitgeber präventiv gegen sexuelle Belästigung vorzugehen, sollte eine entsprechende Firmenkultur herrschen. Ein Beispiel: Sind sexistische Witze am Arbeitsplatz okay, werden Grenzüberschreitungen eher als normal angesehen. Bei einer respektvollen und offenen Kultur ist deshalb die Chance größer, dass sexuelle Belästigung gleich als solche erkannt wird.
Die Transparenz
Wenn es zu einem Vorfall kommt, ist der transparente Umgang zentral. Auch die Einführung eines soliden Prozesses, bei dem alle Beteiligten sehen, dass ihre Anliegen ernstgenommen werden, kann bei der Präventionsarbeit helfen. Es hätte eine Abschreckungs- und Schutzwirkung, sagt Yara Hofbauer, upright-Rechtsanwältin: „Wenn betroffene Personen nicht wissen, wie so ein Prozess aussieht oder an wen sie sich wenden können, gibt es eine sehr große Zurückhaltung.“
Die Reaktion
Sobald eine Beschwerde eingereicht wird, müssen erste Maßnahmen gesetzt werden, die sicherstellen, dass es zu keinen weiteren Belästigungen kommt (Abhilfepflicht). Darauf folgt eine Sachverhaltsermittlung, auf deren Basis nachhaltige Maßnahmen gesetzt werden. Um der Sorgfaltspflicht nachzukommen, muss jeder Schritt dokumentiert werden.
Als Arbeitnehmer sollte man ebenfalls alle Vorfälle der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz dokumentieren. Wenn man betroffen ist, bieten Betriebsrat, Gewerkschaft und Arbeiterkammer Informationen für weitere Schritte. Die Telefonhotline „Act 4 Respect“ (Tel.: 0670 600 70 80) des Sprungbrett-Vereins bietet Hilfe für Betroffene an.
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