Arbeiten in den 50er-Jahren: "Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen"
"So etwas kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen", sagt Peter Fleischhacker. Er wohnt in einer Pflegeeinrichtung des Haus der Barmherzigkeit und berichtet in einem KURIER-Gespräch von seinen ersten Berufserfahrungen. Dem stimmt auch Hilda Lee zu. Sie ist auch eine Bewohnerin des Pflegeheims. Ihre Erfahrungen reichen Jahrzehnte zurück, trotzdem erinnern sich beide an jedes Detail. Sie berichten offen von harter Arbeit, strengen Chefs aber auch von den guten, alten Zeiten. Wie es war damals zu arbeiten und warum es trotz aller Hürden schön war.
Von Strumpffabriken und Urlaub am Fahrrad
Mit einem strahlenden Lächeln betritt Frau Lee den Gemeinschaftsraum einer Pflegeeinrichtung des Haus der Barmherzigkeit in Wien und posiert sofort für den Fotografen. Sie beginnt zu erzählen. Ihr Leben sei wie ein Urlaub, sagt sie voller jugendlicher Energie. Davon ist man im ersten Moment überrascht. Wir werfen sicherheitshalber noch einmal einen Blick auf den Lebenslauf: Geburtsjahr 1925. Hilda Lee ist 98 Jahre alt. Kurz nach dem Krieg zog sie vom Waldviertel nach Wien, um hier in einer Strumpffabrik zu arbeiten.
Viel hatten wir nicht, wir haben aber auch keine Ansprüche gestellt
KURIER: Ich würde gerne mehr zu Ihrem Berufseinstieg erfahren, Frau Lee. Wie war das damals und wo haben Sie gearbeitet?
Hilda Lee: Ich bin am Land aufgewachsen und habe mich um das Vieh gekümmert. Nach dem Krieg wollte ich dann in die Stadt. Da habe ich auch meinen Mann kennengelernt. Ich war in einer Strumpffabrik tätig. Wir haben aus Amerika die schlechten Nylonstrümpfe geliefert bekommen und wiederverwertet. Damit hat sich der Chef eine ganze Fabrik aufgebaut.
Wie sind Sie zu dieser Arbeit gekommen?
Ich bin damals von Haus zu Haus gegangen, habe nach Schildern gesucht und nach Arbeit gefragt. Ich habe jede Arbeit angenommen – auch wenn es Fensterputzen war. Eine Bekannte hat mir dann von der Arbeit in der Fabrik erzählt. Eine Stelle ist frei geworden, weil eine Kollegin etwas anderes gefunden hatte. In der Fabrik habe ich 15 Jahre gearbeitet. Später bin ich einige Jahre daheimgeblieben. Danach habe ich mit dem Besenballett begonnen.
Besenballett?
Mit dem Besen arbeiten (lacht). Ich war bei Fiat zusammenräumen.
Wie sah Ihr Arbeitsalltag damals aus?
In der Fabrik hatte ich Schichtarbeit und musste schon um sechs Uhr in der Früh dort sein. Manchmal hat mein Mann mich mitgenommen. Heute würde ich mich um die Uhrzeit gar nicht mehr auf die Straße trauen. Um zwei Uhr nachmittags war die Arbeit fertig.
Fanden Sie das Arbeiten in der Fabrik beschwerlich?
Wenn man jung ist, ist die Arbeit nicht so tragisch. In der Strumpffabrik wurde ich überall eingesetzt, nur gestrickt habe ich nicht. Dort haben lauter junge Frauen gearbeitet – zu viert an einer Maschine. Wir haben uns immer gut vertragen. Das musste man auch. Man konnte mit dem Schädel nicht durch die Wand.
Wie war das Verhältnis zum Chef, war er streng?
Wenn die Spulen übergegangen sind, war der Chef nicht begeistert. Er meinte dann: „Sie können Ihre Sachen packen und gehen.“ So ist es gewesen damals. Aber ich habe es ganz gern gemacht. Ob das jetzt Spaß gemacht hat, ist wieder eine andere Frage. Irgendwas musste man ja arbeiten, und wenn man nichts gelernt hat, musste man das machen, was da war. Während des Kriegs durfte man nicht von der Wirtschaft weggehen.
Was hat Ihr Mann beruflich gemacht?
Mein Mann war Feinmechaniker. Er hat viel gearbeitet und immer wieder Überstunden gemacht. Da hat man nicht gesagt: „Für 20 Schilling gehe ich nicht arbeiten.“ Das hat es früher nicht gegeben. Ein jeder hat Geld gebraucht, da hat man nicht „Nein“ sagen können. Ich habe in den 1940-er-Jahren geheiratet und wir beide mussten ein ganzes Jahr arbeiten, um uns ein Gewand dafür kaufen zu können.
Sie meinen, etwas Feines?
Nein, einfach nur ein Kleid, das gut gepasst hat. So verwöhnt waren wir nicht.
1925 kam Hilda Lee im Waldviertel auf die Welt und ist dort auf einem Bauernhof aufgewachsen. Sie kümmerte sich um das dortige Vieh, aber nach dem Zweiten Weltkrieg zog es sie in die Hauptstadt.
In Wien nahm Lee alle möglichen Jobs an. Sie putzte Fenster, war als Stubenmädchen tätig und arbeitete danach in einer Strumpffabrik im 15. Bezirk, wo man unter anderem Nylon-Strümpfe verarbeitete. Dort blieb sie 15 Jahre. Nach einer beruflichen Auszeit startete sie bei Fiat und kehrte dort die Böden
Wie viel Geld haben Sie damals verdient?
40 Schilling.
In der Woche?
Im Monat! Das Geld hat man sich freitags abgeholt. Damit konnte man aber nicht viele Sprünge machen.
Was konnte man sich damit leisten?
Obwohl es recht mager war, ist man gut durchgekommen. Viel hatten wir nicht, wir haben aber auch keine Ansprüche gestellt. Wenn man wenig hat, ist man mit allem zufrieden. Nach dem Krieg konnten wir uns gar nicht vorstellen, jemals ein Auto zu besitzen. Unser erstes Auto haben wir erst in den 60er-Jahren gekauft. Davor waren wir mit dem Rad unterwegs. Sogar in den Urlaub sind wir damit gefahren. Zu der Zeit hatte ich aber kein eigenes Rad und musste mir eines ausborgen. Wir fuhren Richtung Mariazell und haben im Heu geschlafen, weil alle Zimmer besetzt waren. Aber es war schön, wir waren zufrieden.
Was haben Sie in Ihrer Freizeit gemacht?
Ich bin mit einer Freundin ausgegangen. Mein Mann muss sich damals Schlimmes gedacht haben, als ich in der amerikanischen Zone war. Na Servas, dabei war das ganz harmlos (lacht). Ich hatte auch keine Angst, dass mir etwas passiert. Wir sind einfach Tanzen gegangen.
Das beweist Frau Lee gleich nach dem Gespräch: Sie verabschiedet sich und verlässt tanzend den Gemeinschaftsraum. „Ein bisschen Spaß muss sein“, lacht sie.
Von einer anderen Zeit mit Sakkos und Krawatten
Während Frau Lee von dannen tanzt, tritt Peter Fleischhacker vor die Kamera. Auch er wohnt in einem Haus der Barmherzigkeit Pflegeheim. Er wird fotografiert und nutzt die Gelegenheit für einen Witz: „Warum gehen Ameisen nicht in die Kirche?“, fragt er. Als Antwort erhält er ratloses Schulterzucken. „Weil sie in Sekten sind“, enthüllt er die Pointe und bringt den Fotografen zum Lachen. Fleischhacker kam 1943 auf die Welt. Maturiert hat er 1961 und startete gleich darauf seine Karriere.
Über mein ganzes Berufsleben wusste ich nicht, wie man arbeitslos schreibt
KURIER: Herr Fleischhacker, was können Sie mir über Ihre Karriere erzählen?
Peter Fleischhacker: Über mein ganzes Berufsleben wusste ich nicht, wie man arbeitslos schreibt. Ich habe im Jänner 1962 nach meiner Matura bei der Bundesbahn als Fahrdienstleiter begonnen. Das gibt es heute so nicht mehr. Jetzt wird alles über den Computer gemacht.
Was haben Sie als Fahrdienstleiter gemacht?
Geschaut, dass Türen zu sind, alle zurücktreten und das Zeichen gegeben, dass es weitergehen kann. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Früher hat es auch den Streckengeher mit dem großen Schraubenzieher gegeben, der kontrolliert hat, ob die Schrauben an den Schienen noch fest sind.
Sind Sie lange bei den ÖBB geblieben?
Ich habe mich in dem Beruf wohlgefühlt, aber der Dienst war in ganz Österreich verstreut. 1964 habe ich dann bei der Länderbank begonnen und war dort bis 2005, bis zu meiner Pension. 15 Jahre lang war ich in den Zweigstellen tätig und später auch Zweigstellenleiter-Stellvertreter und Revisor. Ich konnte klar einschätzen, wenn etwas nicht funktionierte. Damals war ein Bankjob das Beste, was es gab. Aber heute gibt es nicht mehr viele solcher Beamte. Die Überweisungen macht heute der Computer und Geld abheben muss man am Automaten.
Wie sah Ihr Arbeitsalltag damals aus?
Dienstbeginn war um halb acht, offizieller Dienstschluss war um halb vier – aber ich kann mich kaum erinnern, dass ich je so früh nach Hause gegangen bin. Man musste ja fertig arbeiten und konnte nichts liegen lassen. Ich glaube, dass wir eine Überstundenpauschale hatten, bei der nur eine halbe Stunde davon bezahlt wurde. Trotzdem bin ich meist erst um halb sechs nach Hause gefahren. Das habe ich aber gern gemacht, auch wegen der Sicherheit des Jobs. Ich weiß nicht, ob Bankangestellte heute einen so sicheren Job haben, wie ich ihn hatte.
Hat auch das Geld gestimmt?
Damals waren wir gute Verdiener. Ich konnte meine Familie mit dem Einkommen gut erhalten. Erst, als die Kinder dann 14 Jahre alt waren, ist meine Frau wieder arbeiten gegangen – bei Lotto-Toto.
Was hat Ihnen an der Arbeit besonders gut gefallen?
Der Kontakt mit den Kunden. Es gab Stammkunden, die immer wieder auf ein Plauscherl vorbeigekommen sind. Apropos, darf ich Sie fragen: Wird der Weltspartag heute noch wahrgenommen?
Nicht mehr ganz so.
Zu meiner Zeit sind die Leute Schlange gestanden. Da hat es einmal einen Schwindler gegeben, mit 20 bis 30 Sparbüchern, der wollte 30 Geschenke. Der Chef hat ihn rausgeworfen.
Wie war das Arbeitsklima damals und welche Kleidungsvorschriften gab es?
Es gab einen Zwang, im Sakko, weißen Hemd und Krawatte in die Arbeit zu kommen. Jede Viertelstunde wurde die Temperatur gemessen und erst, wenn es 25 Grad hatte, durften wir das Sakko ausziehen. Einmal hat der Herr Oberprokurist mich zum Friseur geschickt, weil meine Haare zu lang waren. Das war eine andere Zeit. Aber eines noch: Liebe Dame, Sie sind nicht ordentlich angezogen.
Peter Fleischhacker kam 1943 auf die Welt und ist in Wien aufgewachsen. Seine Karriere startete er nach der Matura bei der ÖBB als Fahrdienstleiter.
Nach dem Bundesheer wechselte er zur Länderbank. Zunächst als Mitarbeiter in den Zweigstellen und dann als Revisor. Dieser Position blieb er bis zu seiner Pension 2005 treu
Ich? Warum nicht?
1968 hätten Sie so nicht in die Arbeit kommen dürfen. Stellen Sie sich vor: Die stellvertretende Leiterin hatte einen Hosenanzug an, mit dem sie locker auf den Opernball hätte gehen können. Der Chef aber sagte, dass sie sofort gehen und sich einen Rock anziehen soll. Und sie hat es getan.
Obwohl sie Leiterin war?
Der Chef war sozusagen allmächtig. Gottseidank sind wir so fortgeschritten, dass man anziehen kann, was man möchte. Wenn man sich immer nur an die gute, alte Zeit halten würde, wären wir immer noch in der Steinzeit.
Waren Chefs damals immer so streng?
Einmal hat mich der Direktor angerufen und ich habe einem Kollegen zugeflüstert, dass der Direktor dran ist. Dabei habe ich aber vergessen, seinen vollen Titel zu nennen. Der Direktor hat es scheinbar mitbekommen, denn fünf Minuten später kam der Stellvertreter und fragte, welcher Volltrottel den Direktor desavouiert. Ich musste mich rechtfertigen.
Damals gab es sehr viel Respekt vor Vorgesetzten.
Und auch vor den Mitarbeitern. Nach einem Banküberfall mussten wir das fehlende Geld zählen und der Generaldirektor, Herr Doktor Franz Vranitzky, der später Bundeskanzler wurde, war dabei. Er hat nach dem Kassierer gefragt, der ausgeraubt wurde. Der war gerade bei der Polizei, als er zurückkam, lud ihn der Generaldirektor auf einen Kaffee ein. So etwas möchte ich heute erleben.
Kommentare