25.000 Tweets: #Aufschrei schreibt Netzgeschichte

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Der Twitter-Hashtag #Aufschrei hat die Debatte über Sexismus im Alltag bereits jetzt stark verändert.

Der Arzt, der meinen Po tätschelte, als ich wegen eines Selbstmordversuchs im Krankenhaus lag. - Mann tätschelt mich, spricht wie zu einem Kleinkind: Das kriegen wir schon hin. - Der Chef, der mir riet, nimm das Wort Frau ein Jahr lang nicht in den Mund, dann klappt’s auch mit der Beförderung. *

Twitter-Nutzer können seit Donnerstag einem Wort nicht entgehen: Dem Hashtag #Aufschrei. Rainer Brüderle, FDP-Fraktionschef und eigentlicher Auslöser der mittlerweile grenzüberschreitenden Debatte, hat wohl nicht mit so einem Echo gerechnet: Der liberale Politiker hatte sich einer Stern-Reporterin anzüglich genähert und damit eine Welle an Empörung losgetreten – deutschsprachige Twitter-Nutzer schilderten daraufhin unter oben erwähntem Hashtag ihre persönlichen Erfahrungen mit Sexismus.

Über die Grenzen geschwappt

Binnen 48 Stunden entwickelte sich der Aufruf zum Selbstläufer: Mehr als 25.000 Tweets – Spam nicht mitgerechnet – hat der Analysedienst Topsy registriert. Und da sind jene Tweets, die auch im englischsprachigen Raum verschickt wurden, noch gar nicht mitgerechnet: Unter den Hashtags #outcry und #shoutingback haben sich Frauen aus aller Welt zu Wort gemeldet, um ihre Erfahrungen mit Alltagssexismus zu schildern.

Prominenz war hier ebenso zu finden wie anonyme Nutzer. Und die Erfahrungen der Frauen bildeten ein Spektrum von Erlebnissen ab, das von unpassender Wortwahl bis zu tätlichen Übergriffen ging (siehe Storify hier). In 140 Zeichen wurde abgebildet, was die Gesellschaft sonst gerne ausblendet: Sexismus ist Alltag. Sprachlich wie körperlich.

Was nützt's?

Die mediale Reaktion auf das Phänomen #Aufschrei war ähnlich divers: Artikel darüber finden sich in fast allen Medien – mehrheitlich auf den Online-Plattformen, versteht sich. Ihr Tenor ist überall ähnlich: Applaus den Frauen, die die Debatte initiiert haben – und noch mehr Applaus jenen, die sich trauen, öffentlich über ihre Erfahrungen zu reden. Im Raum bleibt aber immer die eine Frage, nämlich: Wird es was nützen?

Sieht man sich die Kommentare und Tweets von diversen Männern an, die sich in die Debatte eingeschaltet haben, kann man an einer tatsächlichen Veränderung durch die Aktion zweifeln: Sätze wie „Können wir nicht einfach Frauen und Männer aufteilen und ne Mauer dazwischen bauen? DANN IST ENDLICH RUHE! #aufschrei“, ist da noch einer der harmloseren. Aber auch Beklommenheit und Verständnis hat die Debatte bei vielen männlichen Twitter-Usern ausgelöst.

Anne Wizorek, die den Hashtag #Aufschrei ins Leben gerufen hat, ist allerdings relativ zuversichtlich. Im Spiegel Online-Interview sagt sie, Aktionen wie die ihre seien unabdingbar - denn „Männer gehen sonst durch ihre eigene Welt und nehmen den alltäglichen Sexismus gar nicht wahr. Die meisten Männer sind ja jetzt geschockt von unserem #Aufschrei.“

* Die oben genannten Tweets stammen übrigens von Nicole von Horst, die als erste begann, über ihre Erfahrungen zu twittern; von Autorin und Spiegel-Kolumnistin Sybille Berg sowie von Anke Domscheit-Berg, Piratin und Ex-Microsoft-Managerin).

Wer sich dazu entscheidet, eine Sexkolumne zu schreiben, muss vorher wissen, dass da was kommen wird.
Anzügliche eMails (gelinde gesagt), anzügliche Blicke, Nachfragen ("Sind Sie so wie Sie schreiben?"), Fotos, Witze, schmutziges Lachen. Ich mache das, weil ich weiß, wer ich bin. Und wann meine Grenze erreicht ist. Das gilt/galt auch für mein Leben. Ich komme aus Verhältnissen, wo es nicht gerade zimperlich zugegangen ist, Grenzüberschreitungen habe ich als Kind und Jugendliche nicht nur beobachtet, sondern auch (hautnah) erlebt. Und dabei spreche ich nicht nur von "Sexismus im Alltag", sondern von einem konkreten Eindringen in meine Intimsphäre.

Einschub: Sexualisierte Diskriminierung hat viele Gesichter und Facetten, das ist wichtig, zu unterscheiden. Sie beginnt beim angeblich so coolen Spruch und endet - über Anstarren, zufällige Berührungen - beim konkreten sexuellen Übergriff. Wer was als Demütigung empfindet, wird individuell entschieden werden müssen. Aber jeder Mensch hat das Recht, sich gegen jede Form von Grenzverletzung zu wehren. Es kommt natürlich auch auf den Kontext an - es ist ein Unterschied, ob mir ein Mann auf meinen Oberschenkel greift, wenn ich mit ihm seit zwei Stunden in einer Bar sitze, ihm signalisiere, dass er mir gefällt, mit ihm flirte, ihn ermutige, ihn eigentlich will. Oder mir jemand, den ich gerade Mal 10 Minuten kenne, blöd mit einer Berührung kommt, die absolut unangebracht ist. Was mir ganz sicher nicht gefällt: Männer unter Generalverdacht zu stellen. Dies schadet nur der Diskussion.

So.

Aber was tun? Für mich persönlich (und bitte nur für mich!!!) ist die eigene Ermächtigung eine wichtige Facette rund um dieses Thema. Noch einmal - ich spreche hier ganz konkret von den klassischen Formen des Alltagssexismus in Form von Witzchen und Anspielungen. Für mich ist diesbezüglich klar, dass ich mich ermächtigen muss, die Wahl zu haben, was und wen ich wie sehr an mich ranlasse und was nicht. Diese Macht muss ich in mir spüren. Sie macht micht stark und groß und konkret. Ich habe also die Macht nein zu sagen, mich in der Sekunde zu wehren, erhobenen Hauptes ungeduldig zu werden, oder durch einen Gegenwitz das Niveau des Gegenübers sarkastisch zu entlarven. Das gibt mir eine Form von Spielraum, den ich Freiheit nenne. Eine Freiheit, die mir, nur mir gehört. Und Freiheit war für mich immer schon ein sehr zentrales Thema.

Wie gesagt - ich habe auf diesem Sektor schon sehr früh sehr viel erlebt. Und daraus gelernt: Vor allem, dass ich kein Mitleid will, dass ich kein Opfer sein möchte. Dass ich es in der Hand habe, mich zu wehren, stopp zu sagen, mein Gegenüber mit meinen Waffen zu schlagen. Ich habe mich nie klein machen lassen und werde mich nicht klein machen lassen. Ganz im Gegenteil: Ich mache mich stark für mich.

Dies wäre übrigens ein wichtiger Aspekt, die Erziehung unserer Töchter betreffend (auch Burschen, übrigens. Wer glaubt, sie wären ausschließlich die Täter, lügt). Wir müssen Ihnen sagen mach dich nicht klein, lass dich durch die Gedanken anderer Menschen nicht klein machen, bleib bei dir. Denn in dir findest du den Platz, der sicher ist. Hab den Mut dem, der dich klein macht in die Augen zu sehen, und zeig ihm mit der ganzen Kraft deiner Seele, deines Blickes, deines Mensch-seins, dass er dir egal ist, dass seine Worte lächerlich und unbedeutend sind. Und dass sich dadurch an deiner Integrität nichts ändern wird, sich deine Welt weiterdreht und zwar mächtig. Sage nein. Und sage ja - zu dir.

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