Der bärtige Engel hat sich etabliert

Megastar Conchita: Die Kunstfigur überdauerte den ersten Hype
Vom ORF fühlt sich Conchita zwar im Stich gelassen. Aber die Kunstfigur ist ohnehin längst eine Stilikone von Weltformat.

Irgendwann im Laufe der vergangenen zwölf Monate ist es passiert: Der Bart fiel nicht mehr auf. Die Kunstfigur Conchita hat ihre Rolle im allgemeinen Bewusstsein verankert – aus dem bärtigen Fräuleinwunder wurde eine erwachsene Frau, von deren neuen Haarschnitten öffentlich Notiz genommen wird.

Die Rolle, die sich der Steirer Tom Neuwirth ersann, nutzte sich nicht als billiger Gag ab, sondern legte rasant an Glamour und Charisma zu. Als ESC-Host schaffte es Conchita zuletzt, nicht nur blendend auszusehen, sondern auch Authentizität zu vermitteln, die so manchem Unverkleideten auf und abseits der Bühne verwehrt bleibt.

Dabei hatte das Projekt Wurst als absolute Trashnummer angefangen: Von der "Großen Chance" führte sie ihr Weg direkt in die Privatfernsehwüste, wo Conchita als Kuriosität zu versauern drohte. ORF-Fernsehdirektorin Kathrin Zechner schickte sie 2014 auf die ESC-Bühne, was sich als Geniestreich entpuppte.

Conchitas alter Ego Tom Neuwirth als Sänger zu sehen, griffe zu kurz: Der Absolvent der Grazer Modeschule hat instinktsicher erkannt, dass die Gegenwart der internationalen Showwelt an der Schnittstelle von Mode und Medien stattfindet. Ein bisschen Instagram hier, ein bisschen Laufsteg dort – die Stars in Paris und New York machen es nicht wesentlich anders.

Dass ein dünner Junge aus Bad Mitterndorf obendrein die perfekte Modelfigur zuhaben scheint, ist ein fast zu beiläufiger Nebenaspekt zu den bitteren Realitäten der Modeindustrie. Conchita jedoch entschwebt solchen Grundsatzdebatten stets elegant und hangelt sich freundlich von Einladung zu Einladung: Ban Ki-moon, Karl Lagerfeld, Gaultier... längst ist die Dragqueen dem Testimonial für Toleranz entwachsen und erfüllt eine neue Rolle mit Leben: Die der internationalen Stilikone, made in – ausgerechnet – Austria.

Das Management von Conchita Wurst übte am Montag harte Kritik am ORF, nachdem der Sender während des Auftritts der Künstlerin mit neuen Songs im Finale des Eurovision Song Contests Werbung und Nachrichten gezeigt hatte. "Das wäre so, als ob man während des Elfmeterschießens um den WM-Titel einen Werbeblock sendet", ärgert sich Manager Rene Berto in einem Statement gegenüber der APA.

So seien die Auftritte Conchitas ohne die ORF-Zuseher über die Bühne gegangen - obgleich die ESC-Gewinnerin des Vorjahres diese den Fans des Song Contests gewidmet habe. "Der ORF hat zweifellos den Eurovision Song Contest hervorragend bewältigt und eine gute Show abgeliefert. Trotzdem ist das Ausblenden von Conchita nicht nachvollziehbar", unterstreicht Berto: "Damit präsentiert sich der ORF wieder einmal als Mischung aus russischem Staatsfernsehen und deutschen Privatsendern und zeigt, dass ihm der öffentlich-rechtliche Auftrag zur Unterstützung und Förderung heimischer Popmusik kein wirkliches Anliegen ist."

"Galionsfigur"

Der ORF habe 2013 die mutige Entscheidung getroffen, Conchita zum ESC nach Kopenhagen zu entsenden. Und Wurst habe sich trotz ihrer internationalen Karriere, die nach dem Triumph in Kopenhagen folgte, mit großer Freude in den Dienst der Sache gestellt, um den ESC in Wien bestmöglich zu unterstützen. "Conchita wurde zur Galionsfigur und Botschafterin des Song Contests 2015 in Wien, wo sie gleichzeitig als Moderatorin und als wesentlicher Bestandteil der Eröffnung der ORF-Übertragung mitwirkte", so Berto.

Zugleich habe sie mit "Conchita" (Sony) kurz vor dem ESC ihr neues Album vorgestellt. "Genau in diesem Moment lässt sie aber der ORF in Stich und ignoriert damit ihre internationale Arbeit." Wenn der Sender statt ihres Auftritts als Intervalact während der Abstimmungsphase einen News- und Werbeblock zeige, bleibe nur zu konstatieren: "1,9 Millionen TV-Zuseher und -Zuseherinnen des ORF wurden somit ge- und enttäuscht."

Werbepausen im ORF Usus

Update: Nach den Regeln der EBU darf jeder nationale Rundfunk selbständig Werbeblöcke an bestimmten Stellen während der ESC-Show einschalten. Es steht somit jedem Rundfunk frei zu entscheiden, ob er die Werbung einschaltet oder nicht. International waren die Auftritte jedenfalls zu sehen. Die ARD etwa übertrug alle Interviews Conchitas im Green Room.

Der ORF nutzt diese Möglichkeit jedoch seit Jahren, um regelmäßig Werbung zu schalten. Heuer blieb man mit dieser Maßnahme sogar unter dem veranschlagten Budgetrahmen für den Song Contest von 15 Millionen Euro. Rund eine Million Euro, als in dieser Zeit normalerweise üblich, werde man dadurch mehr einnehmen, sagte ORF-Finanzdirektor Richard Grasl im Interview mit der APA.

Erinnern Sie sich noch an den Song Contest in Wien, damals, vor so vielen Tagen?

Damals...,

... als man aus Hochachtung für eine großartige Show den Hut vor dem ORF ziehen wollte – und sich noch nicht über die zwar gesetzeskonforme, aber unpassende und kleinmütige Zerstückelung durch unnötige Werbepausen geärgert hatte?

... als Österreich sich von seiner besten Seite zeigte – und der Gastgeberbeitrag noch nicht mit null Punkten gedemütigt worden war?

... als im Eurovision Village beim Rathaus gemeinsam gefeiert wurde, ein Platz, der nur wenige Minuten nach Ende der Show eiligst geräumt wurde, damit das Völkerverständigungsfest ja niemanden weiter störe?

... als etwas Ungewohntes in der Luft lag, das man nach langem Überlegen als Stimmung der Toleranz erkannte – und das ungetrübt war durch den Mief des Hasses, der Menschenverachtung und der Feindseligkeit, der längst wieder aus den Onlineforen schwappt?

... als die Menschen sich noch nicht über den Sieger (hat mal was Schwulenfeindliches gesagt!) und die Zweitplatzierte (Russin!) aufgeregt haben?

... als man selbst das klischeehafte Motto des Brückenbauens ohne Lachen ausgesprochen hat?

Als das Wetter strahlte, das Gras grüner, alle Menschen schön und glücklich... ach nein.

Erinnern Sie sich noch an den Song Contest? Ich erinnere mich nicht mehr.

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