Neue Studie: "Zahnseide ist wirkungslos"

Ein Bericht der Associated Press über die Wirkung von Zahnseide wirft Fragen auf.
Zahnseide ist ein Muss – das propagieren Zahnärzte seit Jahrzehnten. Eine neue Studie lässt nun tiefgreifende Zweifel an der Wirksamkeit des Hygieneprodukts aufkommen.

Das kräftige Raunen, das dieser Tage durch die Zahnärzteschaft geht, ist unüberhörbar. Der Grund dafür ist ein Studienbericht der Nachrichten- und Presseagentur Associated Press (AP) über den Wirkungsgrad von Zahnseide. Die darin formulierte Kernerkenntnis: die positiven Effekte der regelmäßigen Verwendung von Zahnseide im Zuge der Mundhygiene sind wissenschaftlich weder bewiesen, noch haltbar. Damit scheint einer der universellsten zahnärztlichen Empfehlungen quasi über Nacht jegliche Legitimation entzogen worden zu sein. Bisher war gegenüber Patienten stets die Notwendigkeit von Zahnseide zur Vorbeugung und Vermeidung von Karies und Zahnfleischerkrankungen betont worden.

Material aus 25 Studien analysiert

Ausgangspunkt der Untersuchung war eine Anfrage der Associated Press, die sich an das US-Ministerium für Gesundheitspflege und Soziale Dienste richtete. Darin forderte die Nachrichtenagentur im Jahr 2015 wissenschaftliches Beweismaterial an, welches die Wirksamkeit von Zahnseide belegt. Die wissenschaftlichen Unterlagen trafen jedoch nie bei der AP ein. Stattdessen erreichte das Unternehmen ein behördliches Schreiben der Regierung, in dem bestätigt wurde, dass derartige wissenschaftliche Belege nicht existieren würden. Zudem verschwand die Empfehlung für Zahnseide noch im selben Jahr aus der neu aufgelegten US-Ernährungsleitlinie des US-amerikanischen Gesundheitsministeriums (Dietary Guidelines for Americans). Dort war die Empfehlung seit 1979 verankert gewesen. Aufgabe der Ernährungsleitlinie ist es, die beste verfügbare wissenschaftliche Evidenz zu identifizieren und zu begutachten, um dann Ernährungsempfehlungen zu geben, die die Gesundheit fördern und Krankheiten vorbeugen.

Folglich stellte die Agentur eigene Nachforschungen an und nahm im Zuge dessen 25 Studien unter die Lupe, die allesamt einen Vergleich zwischen der Zahnpflege mit und ohne Zahnseide anstellten. Das Analyseergebnis: Die wissenschaftlichen Belege, die für die Verwendung von Zahnseide sprechen, sind "schwach und unzuverlässig", weisen "geringe Qualität" und ein "moderates bis großes Potenzial für eine systematische Messabweichung" auf. Das geht aus dem nun veröffentlichten AP-Bericht hervor.

So wurde in einem Studienbericht aus dem Jahr 2015 beispielsweise die Wirksamkeit von Zahnseide bei der Entfernung von Plaque widerlegt, eine andere Untersuchung aus demselben Jahr bestätigte lediglich "schwache" Beweise hierfür und betonte generell die "mangelnde Wirksamkeit" des Hygieneprodukts. Ein Forschungsteam einer Studie aus dem Jahr 2011 brachte Zahnseide zwar mit der Reduktion von Zahnfleischentzündungen in Verbindung, verwies jedoch auch auf die "unzureichende Glaubwürdigkeit der Ergebnisse".

Wissenschaftlicher Wirrwarr

Interessanterweise bestätigten jene Untersuchungen, die vom US-Gesundheitsministerium in der Vergangenheit als Grundlage für ihre Empfehlungen herangezogen wurden, die Effektivität von Zahnseide in allen oben genannten Bereichen. Die AP kritisiert in ihrem Bericht jedoch die "veralteten Untersuchungsmethoden" und die "geringe Repräsentativität dieser Studien". So beruht die Analyse einer der zitierten Studien beispielsweise auf 25 Testpersonen und einem Testdurchlauf.

Konzerne wie Procter & Gamble (P&G) oder Johnson & Johnson, die Zahnseide in den USA vertreiben, beriefen sich auf Anfrage der AP auf ähnlich unglaubwürdige Studien oder sahen gänzlich von einer Stellungnahme ab. Die AP vermutet dahinter nicht zuletzt eine gewisse Marktverschwörung. Immerhin werden mit Zahnseide pro Jahr weltweit über zwei Milliarden Dollar, das sind umgerechnet über 1,7 Milliarden Euro, umgesetzt.

Was Experten dazu sagen

Auf Anfrage des KURIER zeigte Dr. Claudius Ratschew, Pressereferent der österreichischen Zahnärztekammer und selbst niedergelassener Zahnarzt, verwundert über den veröffentlichten Bericht und wies die Erkenntnisse scharf zurück. "Das kann ich aus eigener Erfahrung als Zahnarzt widerlegen. Den Kontaktpunkt zwischen den Zähnen kann man nämlich ausschließlich mit Zahnseide reinigen. Da kommt man weder mit der Zahnbürste, noch mit Schall- und Ultraschallzahnbürsten oder Dentalbürstchen hin", erklärt Ratschew. Der Kontaktpunkt zwischen den Zähnen sei dem Mediziner zufolge die erste Stelle, wo der Mensch Karies bekomme. Dies sei Zahnärzten und Experten seit Jahrzehnten bekannt.

"Wenn man täglich Zahnseide benutzt, bekommt man dort in der Regel keine Karies", so Ratschew. Durch die Zahnseide werde Plaque effektiv entfernt. Dabei handle es sich um eine Mischung aus Speiseresten, Bakterien und abgestorbenen Zellen aus der Mundschleimhaut. "Entfernt man dieses Gemisch nicht, so haben die Bakterien dort die Möglichkeit die Kohlenhydrate zu spalten und in Säure umzuwandeln, so entsteht Karies."

Bei der Anwendung müsse man dem Patienten auch die Angst vor Anwendungsfehlern nehmen. "Wenn man Zahnseide richtig anwendet, kann man nichts falsch machen. Wichtig ist, dass man nicht zu grob vorgeht und die Kontaktpunkt zwischen den Zähnen mit einer leichten, sägenden Bewegung überwindet", so Ratschew. So angewandt sei Zahnseide eines der wichtigsten Putzmittel bei der Mundhygiene – sogar "wichtiger als Zahnpasta".

Zu der Änderung der zahngesundheitlichen Richtlinie in den USA sagt Ratschew: "In den USA passieren laufend in verschiedenen Bereichen Dinge, die schwer nachvollziehbar sind." Zahnseide müsse in Österreich auch weiterhin empfohlen werden, da es das effizienteste Mittel ist, um Karies zu vermeiden.

Das 1x1 der Zahnheilkunde

Wie oft man eine Mundhygiene vom Zahnarzt durchführen lassen sollte, hängt Ratschew zufolge von verschiedenen Faktoren ab. Zum einen sei der Mineralsalzgehalt im Speichel des Patienten ausschlaggebend: "Die im Speichel enthaltenen Mineralsalze lagern sich in die Plaque ein, wodurch sich diese schmierige Substanz verhärtet und in weitere Folge zu Zahnstein wird", so Ratschew. Wie gut man putze sei ebenfalls relevant, so wie auch die individuellen Essengewohnheiten. "Wenn man raucht, viel Kaffee trinkt, Speisen mit Farbstoffen zu sich nimmt oder mit stark pigmentierten Gewürzen kocht, kann das mitunter einen deutlichen Unterschied machen." In der Regel genüge dem Experten zufolge eine Behandlung pro Jahr. Im Detail müsse man dies jedoch immer mit dem behandelnden Zahnarzt besprechen und vereinbaren, denn "Pauschalaussagen sind hier unangebracht".

Das 1x1 des Zähneputzens erklärt der Mediziner wie folgt: "Zwei Mal am Tag genügt. Entweder vor dem Frühstück oder eine halbe Stunde danach und immer nach dem Abendessen." Der Zeitabstand zwischen Nahrungsaufnahme und Zähneputzen sei wesentlich, "da der Zahnschmelz nach dem Essen empfindlicher und erst nach etwa 30 Minuten wieder widerstandsfähig ist."

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