Vor dem Saisonstart: Schanze frei für das große Rätselraten
Stefan Kraft ist ein schlechter Hellseher. Selbst ein Mann mit seinen Fähigkeiten und seiner Erfahrung hat nicht die geringste Ahnung, wo die Reise hingehen wird. Dann, wenn er am Freitag in Wisla (Polen) das erste Mal in dieser Saison abheben wird und die Weitenjagd aufs Neue beginnt.
"Leuchtet der Einser auf? Bin ich Dreißigster?", grübelt Stefan Kraft. "Du hast in Wahrheit keine Ahnung, wo du stehst, wenn du das erste Mal wieder die Startnummer anhast und im Training gegen die anderen springst."
Als Gesamtweltcup-Zweiter und dreifacher Medaillengewinner bei der Heim-WM in Seefeld sollte der 26-Jährige im Normalfall wieder in den höheren Sphären schweben. Doch was ist schon normal in diesem hochsensiblen und mitunter schwer nachvollziehbaren Sport, der Helden gerne einmal aus allen Wolken fallen lässt. Wer hätte jemals gedacht, dass der Superstar und Rekordspringer Gregor Schlierenzauer (53 Weltcupsiege) dermaßen abstürzen würde? Wer hätte geglaubt, dass der Japaner Noriaki Kasai mit 47 immer noch konkurrenzfähig sein könne?
"In diesem Sport kann alles ganz schnell kippen", sagt ÖSV-Cheftrainer Andreas Felder. Der Tiroler geht in seine zweite Saison als Fluglotse und er strahlt eine Ruhe und Gelassenheit aus, die sich mittlerweile auch auf das Team übertragen hat. Nicht alle hatten dem Trainer-Routinier zugetraut, dass er für frischen Wind sorgen und die Trendwende einleiten könnte. Doch nach der Flaute der Olympiasaison 2017/’18 (0 Siege, 0 Medaillen) konnten die ÖSV-Adler im vergangenen Winter immerhin mit drei WM-Medaillen und fünf Weltcupsiegen aufzeigen.
Neue Rangordnung
Das ist immer noch nur ein Bruchteil der Erfolge, die Österreichs Skispringer zu Zeiten der "Superadler" gelandet haben, als dem ÖSV-Team die Titel und Trophäen dank einer goldenen Generation und Materialvorteilen nur so zugeflogen waren. In den vergangenen Jahren haben die Österreicher ihre Lufthoheit an Nationen verloren, die auch dank der Hilfe heimischer Trainer enorm aufgeholt haben. "Du hast nicht mehr nur einen Vorteil, weil du Österreicher bist. Die Zeiten sind vorbei", weiß Felder.
Die erfolgsverwöhnten österreichischen Skisprungfans scheinen sich damit schwerer abzufinden, als die Protagonisten selbst. Während sich andernorts das Skispringen im Aufwind befindet und zum Beispiel das Auftaktspringen zur Vierschanzentournee in Oberstdorf (29. Dezember) seit Tagen ausverkauft ist, fliegen die Österreicher nicht mehr so auf die Adler. Selbst bei der Heim-WM war zuletzt das Bergiselstadion nicht voll.
Neue Hoffnung
Möglicherweise kann ja gerade der Mann, der bei den früheren Höhenflügen federführend war, eine neue Skisprung-Begeisterung auslösen. Gregor Schlierenzauer scheint die Turbulenzen hinter sich gelassen zu haben und wieder auf dem Sprung zu alter Stärke. In den fünf Jahren seit seinem letzten Weltcupsieg hatte der Tiroler mehrmals die persönlichen Trainer und Mentoren ausgetauscht, nun ist der 29-Jährige wieder bei jenem Mann gelandet, der ihn im Skigymnasium Stams groß gemacht hat: Werner Schuster.
"Ich finde den Weg, den der Gregor jetzt geht, sehr gut", sagt Chefcoach Andreas Felder. Ob er auch von Erfolg gekrönt sein wird, ist eine andere Sache. Denn Schlierenzauer weiß selbst am besten, wie weit er zuletzt von der Weltspitze entfernt war. "Bei zwölf Starts habe ich mich im letzten Winter zehn Mal nicht für das Finale qualifiziert."
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