ÖSV-Pechvogel Ortlieb: "Mir ist der Unterschenkelbruch lieber"
Fast auf den Tag genau vor einem Jahr feierte Nina Ortlieb mit WM-Silber in der Abfahrt den größten Erfolg ihrer Karriere. Der Höhenflug der Vorarlbergerin wurde in diesem Winter aber jäh gestoppt.
Beim Einfahren für die erste Saisonabfahrt in St. Moritz erlitt die 27-Jährige einen Unterschenkelbruch. Die Tochter von Olympiasieger Patrick Ortlieb aus Vorarlberg musste bereits die 20. Operation über sich ergehen lassen.
KURIER: Wie haben Sie den neuerlichen Rückschlag verkraftet?
Nina Ortlieb: Natürlich trauert man am Anfang und weint auch viel. Da geht gefühlt die Welt unter. Die körperlichen Schmerzen waren auch sehr präsent. So eine Knochenverletzung tut doch mehr weh, als ich mir gedacht habe. Die erste Zeit war sehr schwierig, aber es gibt halt auch kein zurück mehr. Es hilft nichts.
Sie waren schon häufiger in dieser Situation. Haben Sie eine Routine, einen Weg entwickelt, wie Sie sich wieder aufrappeln?
Nicht wirklich. Ich habe eher das Gefühl, dass der Körper so intelligent ist und viele negative Dinge aus der Vergangenheit einfach verdrängt. Ich hatte einmal einen Oberarmtrümmerbruch und kann mir heute nicht mehr vorstellen, wie ich damals so viele Schmerzen ausgehalten habe. Aber man vergisst es, blendet es aus. Wahrscheinlich ist es ein Schutzmechanismus, dass man sich an die schlimmen Zeiten nicht so erinnert. Scheinbar sind die positiven Momente des Lebens dann doch präsenter im Kopf.
Sie wurden 20 Mal operiert. Wie oft haben Sie sich schon die Frage gestellt: Warum immer ich?
Diese Fragen kommen natürlich daher. Aber für manche Sachen gibt’s eben keine Antwort. Und es gibt ja auch einige, die noch mehr Verletzungen erlitten haben, als ich und die es viel schlimmer erwischt hat. Manche von denen sind gar nicht mehr zurückgekommen. Das vergisst man ja oft, weil man nur das eigene Leid sieht. Was mir schon immer hilft: Das Wissen, dass ich es schon öfter zurückgeschafft habe. Das gibt mir einerseits Motivation und andererseits Vertrauen.
Wie wichtig war in der Hinsicht Ihre WM-Silbermedaille in der Abfahrt 2023?
Das tut gut zu sehen und zu wissen: Egal, wie weit unten ich schon war, ich habe es noch jedes Mal wieder hinauf geschafft – und sogar noch höher als zuvor. Genau darum geht es jetzt wieder. Ich will nicht nur zurück, wo ich schon einmal war. Ich habe das Ziel, noch besser zu werden. Das ist möglich.
War der Unterschenkelbruch angesichts ihrer Krankengeschichte für Sie noch eine vergleichsweise erträgliche Verletzung?
Richtig problematisch wäre ein neuerlicher Patellasehnenriss gewesen. Das hatte ich schon in beiden Knien, wenn das noch einmal gerissen wäre, dann wäre es sehr schwieriger geworden. Ich bin extrem froh, dass ich eine Verletzung habe, die ich so noch nicht hatte.
Das klingt irgendwie schräg.
Aber es stimmt. Wenn man immer wieder die gleiche Verletzung hat, zum Beispiel immer an der Bandstruktur im Knie, dann verliert man über kurz oder lang im Kopf das Vertrauen in diese Körperstelle. Eigentlich waren immer meine Knie die Schwachstellen. Jetzt ist was anderes kaputt gegangen. Das zeigt mir, dass die Knie wieder stabil sind. Das war für mich mental sehr wichtig. Mir ist der Unterschenkelbruch lieber als noch ein Kreuzbandriss.
Wie gehen Sie mit Ihren Verletzungen um? Analysieren Sie Ihre Stürze?
Ich bin jemand, der immer Antworten braucht. Mit Ungewissheit kann ich nicht leben. Darum war es für mich wichtig, über den Sturz zu reden, damit ich eine Erklärung finde, warum es passiert ist. Die mentale Ungewissheit ist für mich im Moment auch die größte Hürde. Nicht zu wissen, wann kann ich wieder schmerzfrei rennmäßig Skifahren. Diese Antwort kann mir aber niemand geben. Die Ärzte können jetzt noch nicht sagen, ob das mit der Metallplatte, die sie mir eingesetzt haben, funktionieren wird. Wenn’s nicht klappt, muss das Teil vor der Saison wieder entfernt werden.
Sie hinterfragen alles und sind ein Kopfmensch. Wäre in solchen schwierigen Phasen manchmal ein Wurschtigkeitsgefühl besser?
Sicher wäre es manchmal vielleicht feiner, wenn man weniger nachdenkt. Aber ich kann es nun einmal nicht ändern. Ich habe viele Ziele erreicht, weil ich so denke, wie ich denke. Ich akzeptiere Dinge nicht einfach nur, sondern ich hinterfrage sie. Mir ist klar, dass ich durch die ganzen Verletzungen nicht die besten Voraussetzungen habe. Und trotzdem habe ich es geschafft, weil ich mir sehr viele Gedanken mache, was ich optimieren kann.
Wenn man etwas Positives finden will: War der Zeitpunkt Anfang der Saison womöglich noch das Beste an Ihrer Verletzung? Sie haben jetzt lange Zeit für Ihre Reha.
In Hinblick auf die nächste Saison war der Zeitpunkt vermutlich gut. Dafür verpasse ich halt heuer den ganzen Winter. Im Endeffekt habe ich acht Monate trainiert für kein Rennen und darf jetzt wieder zwölf Monate trainieren. Wenn du dich im Dezember verletzt, dann wirst du täglich mit dem Winter und den Rennen konfrontiert und siehst, was du verpasst – das ist echt hart. Es macht alles vielleicht ein bisschen erträglicher, dass heuer kein Großereignis ist.
Speed-Ass Nina Ortlieb mit Vater Patrick
Haben Sie einen Fahrplan oder Etappenziele?
Aktuell geht es für mich darum, ein Gangbild zu erlernen. Ich darf den Fuß belasten und gehen, aber es ist gerade noch ein starkes Humpeln. Bevor ich mit dem gezielten Training anfangen kann, sollte ich normal gehen können. Denn ein schlechter Gang beschädigt auch die anderen Strukturen. Die Zeit nehme ich mir. Für den Zeitplan ist es extrem entscheidend, wie es sich mit der Platte im Unterschenkel im Skischuh verhält. Ob es möglich ist, damit zu fahren oder ob man sie entfernen muss.
Wenn man das alles hört: Haben Sie nie den Spaß verloren? Wollten Sie nie den Hut drauf hauen?
Ich mache es einfach viel zu gerne. Bei meiner Silbermedaille in der Abfahrt habe ich wieder gemerkt: Es war es so wert, dafür zu kämpfen. Ich würde es wieder tun, auch wenn der Preis ein sehr hoher ist. Aber das, was ich dafür erhalte, das kann man schwer beschreiben und das zeichnet Spitzensportler aus. Du machst von klein auf Entbehrungen, die du gar nicht als Entbehrungen empfindest, weil du es einfach gern tust. Das ist ein Privileg, in der Situation zu sein, das machen zu dürfen und bei den Besten der Welt sein zu dürfen. Wie viele gibt es, die alles dafür tun, es aber nie schaffen? Nur weil ich wieder einmal eine Verletzung habe, zu sagen: Mir reicht’s! An dem Punkt bin ich nicht.
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