Ex-Skistar Hirscher: "Es gibt keine Leere nach der Karriere"
Marcel Hirscher hatte als Rennläufer nicht nur auf der Skipiste das Sagen, der achtfache Gesamtweltcupsieger war immer auch einer, der Klartext gesprochen und mit seiner Meinung nicht hinterm Berg gehalten hat. Seit seinem Rücktritt im September 2019 hat sich der 32-Jährige nur mehr selten zu Wort gemeldet. Im ausführlichen Interview mit dem Red Bulletin nimmt der Salzburger zu wichtigen Themen Stellung und lässt die vergangenen eineinhalb Jahre noch einmal Revue passieren.
Marcel Hirscher über . . .
- Seine Karriere
"Meine Karriere ist natürlich ein wesentlicher Teil meines Lebens, aber sie ist halt nicht der ganze Film. Weil ja jeder Tag eine neue Szene ist und laufend wieder neues, richtig geiles Material dazukommt! Die Gleichung „Leben = Karriere“, die stimmt für mich nicht. Oder: Sie stimmt für mich nicht mehr. Solange ich gefahren bin, war der Tunnelblick auf den Skirennsport teilweise notwendig, um den Fokus zu halten."
- Eine Leere nach dem Rücktritt
"Nein, dieses Gefühl von „Shit, die beste Zeit meines Lebens ist vorbei!“ kenne ich überhaupt nicht. Mir geht’s genau umgekehrt: Das Beste kommt noch! Das ist mein Motto, und so lebe ich jetzt auch. Es gibt keine Leere nach der Karriere, es gibt eine Vielfalt und eine Fülle, die mich erfüllt. Nach der ich mich gesehnt habe."
- Das Leben im Ski-Weltcup
"Ich bin als junger Typ von der Alm in Annaberg in dieses Ringelspiel eingestiegen und dann acht Jahre immer in der Mitte gestanden. Ich habe getan, was ich auf unserer Alm und in der Hotelfachschule gelernt habe – winken, lächeln und liefern. Ich wollt unbedingt alle g’scheit bedienen, gefühlt das ganze Land, den ganzen Sport. Ich habe dafür unglaublich viel bekommen, mehr, als ich jemals zu träumen gewagt hätte. Und trotzdem, so ehrlich und realistisch muss ich sein: In der Mitte dieses Ringelspiels ist auch ein bissl was von meiner Persönlichkeit liegen geblieben – Lockerheit, Leichtigkeit, Spontaneität, auch Offenheit."
- Den Genuss am Leben
"Inzwischen fühle ich mich wieder viel mehr wie dieser junge Typ von der Alm: ein bissl älter, reifer, gelassener und sicher auch offener. Ich weiß zu schätzen, wie viel Glück ich im Leben habe – und ich weiß auch, dass das Allermeiste nicht mein Verdienst ist. Weil du dir die wesentlichen Dinge im Leben nicht verdienen kannst: super Frau, tolle Family, coole Freunde, geile Hobbys, keine Sorgen und, was dazukommt, mir tut nicht mal etwas weh – trotz fünfzehn Jahren Profisport."
- Den Rückzug aus der Öffentlichkeit
"Erstens bin ich eh zehn Winter lang am Wochenende durch alle Wohnzimmer gewedelt. Zweitens war diese Lebensumstellung natürlich ein wichtiger Prozess für mich persönlich. Und drittens: Wenn eine so intensive Phase zu Ende geht, dann ist wichtig, sie wirklich abzuschließen, damit sich Neues entwickeln kann. Das geht viel besser, wenn man nicht dauernd darüber redet, wie nervös man vor dem zweiten Durchgang des WM-Slaloms 2013 in Schladming war. So kommst nämlich gedanklich nie aus diesem Starthäusl auf der Planai raus – und das ist ja nicht Sinn und Zweck."
- Seine neue Freiheit
"Der Rücktritt selbst war, als hätte ich in meinem Leben den Knopf „Auf Werkseinstellung zurücksetzen“ gedrückt. Ich kannte bis dahin ja nichts anderes als ein fremdbestimmtes Athletenleben nach Excel-Listen. Der Brustpanzer war dann mal weg, und das hat sich angefühlt wie der erste Urlaubstag, nachdem man ewig durchgehackelt hat. Meine Herausforderung war überhaupt nicht, dass ich nicht gewusst hätte, was ich mit meiner Zeit sinnvoll anfangen soll. Sondern: Was will ich als Erstes tun? Denn auf einmal und zum ersten Mal hatte ich unendlich viele Möglichkeiten, mein Leben und meinen Alltag zu gestalten. Aus dieser neuen Freiheit schöpfe ich extrem viel Energie."
- Seine Leidenschaft fürs Ski-Bergsteigen
"Die Begeisterung für die weiße Materie ist gleich geblieben, nur der Zugang ist viel entspannter. Ich bin ein alpinistischer Rookie, gehe nicht allein raus, sondern immer mit einem Profi, der sich mit Wetter und Lawinengefahr auskennt. Raufgehen tu ich gemütlich: kein Pulsmessen, keine Stoppuhr, kein Stress. Runterfahren tu ich meist sportlicher. Ich gehe rauf, um runterzufahren – und nicht um raufzugehen. "
- Die Corona-Krise
"Mich macht der Zustand der Welt schon sehr nachdenklich, und da bin ich nicht der Einzige. Die Corona-Krise zeigt uns gerade, dass wir nicht die Unverwüstbaren sind, für die wir uns teilweise halten, sondern sehr verwundbar. Ein Virus, schon steht gefühlt die ganze Welt! Vielleicht, das ist meine große Hoffnung, bringt dieser Impact auch ein Umdenken für andere ungelöste Probleme mit sich. Ich habe die Hoffnung, dass wir als Menschheit für die Probleme, die wir selbst verursachen, auch Lösungen finden können, um sie wieder in den Griff zu kriegen. Aus jedem Ringelspiel, auch wenn es sich noch so verrückt dreht, kann man auch aussteigen."
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