Endet heute die Ski-Regentschaft von Marcel Hirscher?
Marcel Hirscher wird wohl drei Kreuze machen, wenn er nach dem Weltcupfinale auch noch den heutigen Tag hinter sich gebracht hat. So professionell und originell sich der Salzburger bei seinen öffentlichen Auftritten auch immer geben mag, es sind eben diese Nebengeräusche, die ihm zusehends die Energie rauben – und bisweilen auch den letzten Nerv.
Das Skifahren, das betonte der 30-Jährige erst am Sonntag in Andorra wieder, bereite ihm noch immer eine riesige Freude. „Aber der ganze Wahnsinn drumherum, den mache ich nicht gern.“
Großes Tamtam
Dieser Wahnsinn in Form von Blitzlichtgewitter, Mikrofonknäuel und Dutzenden aufgeregten Reportern wird Marcel Hirscher nicht erspart bleiben, wenn er heute Vormittag in Wien zur Pressekonferenz bittet (Live-Stream auf kurier.at). Dass der Annaberger auch nach dem vergangenen Winter zu einem letzten Medientermin geladen hatte, ehe er sich für Monate aus der Öffentlichkeit zurückzog, wird dieser Tage gerne vergessen. ORF-Sport plus überträgt ab 11 Uhr live, und weil dann zur Primetime auch noch ein ausführliches Interview mit Hirscher ausgestrahlt wird, wittern und fürchten manche bereits, dass an diesem 19. März 2019 die Karriere des erfolgreichsten österreichischen Skifahrers der Weltcuphistorie zu Ende gehen könnte.
Reife Überlegung
Man kann davon ausgehen, dass Marcel Hirscher auf die Frage, die die Skination so brennend interessiert, keine Antwort parat hat. Schwer vorstellbar, dass der 30-Jährige in den vergangenen 48 Stunden eine endgültige Entscheidung über seine sportliche Zukunft gefällt hat, nachdem er sich in Andorra noch Bedenkzeit erbeten hatte. „Man darf sich das nicht so vorstellen, dass man da von heute auf morgen eine Entscheidung trifft. Dass es klack macht oder sich ein Schalter umlegt“, hatte Hirscher 2018 erklärt, als in ihm erst während der Sommermonate der Entschluss zum Weitermachen gereift war.
Auch jetzt besteht für den 30-Jährigen überhaupt kein Grund zur Eile. Seitens des ÖSV oder seines Betreuerteams rund um Mike Pircher („so lange Marcel will, mache auch ich weiter“) gibt es keinen Zeitdruck, und die Verträge mit seinem Ausrüster Atomic und Kopfsponsor Raiffeisen laufen ohnehin bis ins Jahr 2020.
Aus dem Ausland sind derweil bereits die ersten Appelle an Marcel Hirscher zu vernehmen.„Ich würde ihm noch zu gerne beim Skifahren zuschauen“, sagte etwa Felix Neureuther, der am Sonntag seine Karriere beendete und neben Hirscher einer der wenigen Väter im Skizirkus war. „Er macht das zu gut, als dass er jetzt schon aufhören sollte“
Marcel Hirschers Karriere:
Viele Abschiede
Aus Neureuther spricht möglicherweise bereits der Skireporter, als der er in Zukunft den Weltcup begleiten will. Immerhin sind dem Skisport in den letzten Tagen und Wochen schon genug Stars und Publikumslieblinge abhanden gekommen. Mit Lindsey Vonn, Aksel Lund Svindal oder eben auch Felix Neureuther verliert der Ski-Weltcup Persönlichkeiten, die mehr als ein Jahrzehnt lang auf und abseits der Pisten den Ton angegeben haben.
Büßt der Skisport an Attraktivität und Spannung ein, wenn auch noch Marcel Hirscher abdanken würde?
Peter Schröcksnadel verneint das entschieden. „Dann kommt halt der nächste Held daher“, sagt der ÖSV-Präsident, der sich gerade an die Diskussionen und Sorgen nach dem Rücktritt von Hermann Maier erinnert fühlt. „Da hat’s auch geheißen, wer das Loch füllen soll. Und dann war auf einmal der Benni Raich da.“
Nummer eins
Marcel Hirscher ist allerdings längst nicht nur im Skisport der Branchenprimus. In Sachen Popularität und Werbewirksamkeit kann es kein heimischer Athlet mit ihm aufnehmen. 2018 war Hirscher mit einem Medienwert von 10,4 Millionen Euro der wichtigste Werbeträger im Land. Zum Vergleich: Tennis-Ass Dominic Thiem landete mit 3,8 Millionen Euro auf Rang zwei.
Aber Beliebtheit, Ruhm, Aufmerksamkeit oder gar das liebe Geld waren noch nie der Antrieb von Marcel Hirscher. Wie sagte er doch so schön: „Im Endeffekt steckt da eine Sucht dahinter. Ich liebe den Wettkampf.“
Soll Marcel Hirscher jetzt aufhören?
Kollege Geiler sagt JA:
Es redet sich ja so leicht und klingt nebenbei auch noch grundvernünftig: Aufhören, wenn’s am schönsten ist. Wenn’s nach dem ginge, dann hätte Marcel Hirscher schon 2013 nach seinem emotionalen Slalomtriumph bei der Heim-WM in Schladming abtreten müssen. Spätestens aber vor einem Jahr nach seinem Olympiasieg in Korea.
Es wäre aus heutiger Sicht die falsche Entscheidung gewesen. Weil sich Hirscher trotz aller Trophäen seinen Erfolgshunger und Ehrgeiz bis heute bewahrt hat - und in diesem Winter mit einem weiteren WM-Titel und dem achten Gesamtweltcupsieg in Folge noch eins drauf setzte.
Aber wie lange kann und wird das noch in dieser Tonart weiter gehen? Und wäre jetzt nicht ein perfekter Zeitpunkt gekommen, um abzutreten? Als Champion.
Eines muss Hirscher jedenfalls klar sein: Von einen Mann wie ihm werden zwangsläufig Wunderdinge erwartet. Und dann sollte zur achten großen Kristallkugel am besten eine neunte und idealerweise noch der Rekord von Ingemar Stenmark (86 Weltcupsiege) dazu kommen.
Wie schnell der Erfolg vergänglich sein kann, ist bei einem Kollegen von Hirscher zu sehen: Gregor Schlierenzauer, der erfolgreichste Skispringer im Weltcup, wäre froh, wenn er heute mit Marcel Hirscher tauschen könnte.
Kollege Plavec sagt NEIN:
Den 22. Februar 2018 hätte sich Marcel Hirscher für einen Rücktritt aussuchen können. Da endeten die Olympischen Spiele in PyeongChang für den Salzburger mit zwei Goldmedaillen – und der Erfüllung eines Lebenstraumes. Auch der 17. Februar 2019 war so ein Moment: Hirscher gewann in Åre den WM-Slalom und sein siebentes WM-Gold. Doch der 19. März 2019 ist definitiv kein Tag, um eine Erfolgskarriere zu beenden. Zwar liegt hinter ihm eine großartige Saison mit dem Gewinn von drei Kristallkugeln, doch mit einem sechsten Platz im Riesentorlauf in Andorra, einem 14. Rang im Slalom und einer offensichtlichen Formschwäche will und kann der erfolgreichste Skifahrer der Gegenwart nicht abtreten. Denn gerade Niederlagen sind es, die Hirscher so stark machen. Ist die Konkurrenz schneller, arbeitet er wie besessen an sich und seinem Material; wird er im ersten Durchgang abgewatscht, schlägt er im zweiten zurück.
In den nächsten Wochen wird Hirscher bei Frau und Sohn Ruhe finden, Kraft tanken, um im nächsten Winter noch einmal durchzustarten. Mit 30 Jahren ist Hirscher in einem idealen Skifahrer-Alter, von schweren (Knie-)Verletzungen blieb er verschont, sein Ehrgeiz treibt ihn an. 2019/’20 könnte er Lindsey Vonn übertreffen, die ebenfalls 20 Kristallkugeln gewonnen hat. Und vielleicht kommt der richtige Moment überhaupt erst 2021 – nach der Ski- WM in Cortina.
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