Inmitten der Hochhäuser liegen die „Ställe“. Schon von Weitem erkennt man sie an den verzierten Schildern über den Türen, den schweren, meterlangen Gürteln, die draußen zum Trocknen aufgehängt sind, den Gruppen von Fans und Touristen. Doch man muss früh dran sein. Schon um kurz nach neun öffnet ein Koloss von einem Mann die dunkle Holztür, nur ein riesiges Handtuch um die Hüften gewickelt, und weist die Schaulustigen ab: „Tut mir leid, das Training ist für heute vorbei.“
Der Bezirk Ryōgoku im Osten der japanischen Hauptstadt Tokio ist die Heimat des Sumō. Einer Sportart, die so traditionsbehaftet, so einzigartig skurril ist, wie das heutzutage nur noch in Japan möglich ist. Hier leben Hunderte Ringer in den mehreren Dutzend „Ställen“, an die japanische Familien ihre talentierten Kinder schon im Teenageralter abgeben.
Dort leben, trainieren und kochen die Kämpfer gemeinsam – meist den berühmten, fetthaltigen Eintopf Chankonabe, Unmengen davon, um so schwer und stark zu werden wie die großen Legenden.
Seit diesem Wochenende hat der Sumō-Sport einen neuen Helden: Den erst 24-jährigen Mikiya Ishioka, der sich im Ring Takerufuji nennt.
Er sorgte am Sonntag für ein Märchen, das viele in diesem von Erfahrung dominierten Sport für unmöglich hielten: Er nahm zum ersten Mal an einem Turnier der höchsten japanischen Liga teil – der Makuuchi-Division, deren Veranstaltungen 15 Kämpfe an 15 Tagen umfassen – und gewann. Das gab es zuletzt vor 110 Jahren.
Verletzt zum Titel
Die Hirakuza-Halle in Osaka war begeistert, als Takerufuji seinen letzten Gegner, Gonoyama, nach elf Sekunden aus dem Ring drückte und sich mit seinem 13. Sieg bei nur zwei Niederlagen zum Gewinner des „Kaiserpokals“ krönte. Am Mikrofon blieb der Champion bescheiden: „Ich habe das mit reiner Willensstärke geschafft“, sagte Takerufuji sichtlich erschöpft. „Wenn mich jemand bitten würde, das zu wiederholen, würde ich es niemals schaffen.“
Takerufujis historischer Sieg war aus vielerlei Sicht besonders. Zum einen, weil er von allen teilnehmenden Ringern den niedrigsten Rang innehatte. Doch einige Favoriten flogen früh aus dem Turnier, darunter auch Kämpfer des Großmeister-Rangs Yokozuna. Der amtierende Champion, Terunofuji, verletzte sich früh am Rücken.
Doch eigentlich hatte sich auch Takerufuji am Samstag schwer verletzt. Bei seiner zweiten Niederlage war er mit dem Knöchel umgeknickt, war wegen einer Bänderverletzung im Rollstuhl abgeführt und im Krankenhaus behandelt worden. Sein „Stallmeister“ hatte ihm dringend empfohlen, zum Wohle seiner Karriere aufzugeben, wie Takerufuji nach seinem Sieg zugab: „Aber ich wusste, ich hätte es für den Rest meines Lebens bereut, wenn ich jetzt aufgegeben hätte.“
Neuer Stil etabliert?
Fans hoffen, dass Takerufujis Erfolg die Leidenschaft für den Sumō-Sport in Japan neu entfachen könnte, wo in den letzten Jahren immer wieder das hohe Gewicht der Kämpfer und die damit einhergehenden Gesundheitsrisiken thematisiert wurden.
Doch der Kampfstil jungen Champions ist gerade wegen seiner Schnelligkeit besonders. Bei einer Größe von 1,84 Metern ist er für einen Sumō-Ringer ziemlich leicht: er wiegt nur 143 Kilogramm – und damit 15 Kilo weniger als die durchschnittlichen Kämpfer der Spitzenklasse. Um die Eintopf-Rezepte in den Ställen von Ryōgoku zu verändern, muss Takerufuji aber noch einige weitere Titel gewinnen.
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