Sportpsychologe Uhl: "Warum soll ein Homosexueller keine Topleistung bringen?"
Christian Uhl begleitet als Sportpsychologe und Mentalcoach den Spitzensport seit einem Vierteljahrhundert. Er war unter anderem auch bei den österreichischen Super-Adlern, der goldenen Generation der ÖSV-Skispringer, engagiert.
KURIER: Steht ein Sportstar heute vor anderen Herausforderungen als noch vor 25 Jahren?
Christian Uhl: Vom Urkern des Sports hat sich rein gar nichts verändert. Wenn es also darum geht, im Wettkampf die beste Leistung zu zeigen und als Sieger hervorzugehen Was aber dazugekommen ist: Ein Sportler hat wesentlich mehr Pflichten, er steht viel mehr in der Auslage und ist in eine Welt eingebettet, die dynamisch und unglaublich schnell ist.
Sie sprechen von Social Media.
Sportler können sich dort präsentieren und es wird vielerorts sogar erwartet, dass sie das tun und ihre Social-Media-Kanäle pflegen, damit sie ihre Gelder bekommen. Das gehört heute dazu, aber jeder sollte sich auch der Gefahren dieser Inszenierung bewusst sein.
Welche Gefahren sehen Sie?
Es geht um die Trennung zwischen der Person, die ich wirklich bin und der Person, die ich auf Social Media verkörpere. Meister Eckhart (Anm. Ein anerkannter Philosoph des Spätmittelalters) hat schon im 13. Jahrhundert gesagt, dass es einen inneren Menschen und einen äußeren Menschen gibt. Und auf Social Media bist du de facto nur mehr ein äußerer Mensch und spielst eine Rolle. Wenn du auch im Sport nur als äußerer Mensch agierst und probierst, es allen recht zu machen, dann bist du nicht mehr in der Lage zu performen. Ich spüre wirklich extrem, dass so etwas wie ein Machbarkeitsfetischismus um sich greift.
Was meinen Sie damit?
Dass ein Sportler den Eindruck hat: Alles muss gelingen, alles muss möglich sein, und für alles muss ich eine Lösung haben. Und das wird auf Social Media total bedient.
Leben viele Sportler demnach in einer Scheinwelt?
Der Schlüssel ist, dass ich mich ständig auch in der Innenschau befinde und mich hinterfrage: Stimmt das Bild noch, das ich in der Öffentlichkeit abgebe? Bin ich authentisch? Will ich mich noch so verkörpern? Fühle ich mich noch wohl in meiner Haut? Diese Fragen sollte man sich immer wieder stellen. Nicht das ich irgendwann einmal draufkomme: Eigentlich führe ich ein falsches Leben. Und ich will das gar nicht mehr führen. Simone Biles ist für mich ein Paradebeispiel.
Die US-Turnerin hatte 2021 bei den Sommerspielen in Tokio aus mentalen Gründen Bewerbe ausgelassen.
Sie hat damit diese Mental-Health-Debatte angestoßen, das war extrem wichtig. Das muss man sich einmal vorstellen: Sie zieht während der Olympischen Spiele zurück, das macht man eigentlich nicht.
Für Sie als Sportpsychologe, was kann hinter so einer Entscheidung stecken?
Es gibt bei diesen künstlerischen Sportarten, und dazu zählt das Kunstturnen, so etwas wie ein Luftgefühl und ein Rotationsgefühl. Das ist etwas ganz, ganz diffiziles und fragiles. Wenn das wirklich angegriffen ist, dann bekommt man wirklich Angst und hat kein Vertrauen mehr. Ansonsten reden wir hier von einer inneren Verletzung und ganz viel Druck. Und irgendwann kann der psychische Apparat überbrennen und dann kann man nicht mehr.
Braucht ein Spitzensportler heute zwangsläufig ein dickeres Fell?
Es gibt dieses Phänomen der Erfolgssucht: Wenn du immer wieder gewinnst, dann willst du immer mehr und mehr. Und du denkst es ist normal, dass du gewinnst. Und dann landen wir bei Mikaela Shiffrin und dem, was bei Olympia abgelaufen ist.
Sie hat als Topfavoritin keine Medaille gewonnen, wirkte schockiert über ihre Leistungen und wurde dann in den sozialen Netzwerken heftig kritisiert.
Es heißt was, wenn jemand wie Mikaela Shiffrin einmal so reagiert und man merkt, dass sie einfach nicht mehr kann. Und dann passiert auf Social Media plötzlich Folgendes: Jeder hat das Gefühl, dass er am Leben des anderen teilhaben kann, mehr noch: Dass er mitreden und das Leben und das Verhalten mitkommentieren kann. Und wenn ein Sportler sagt, mich lässt das völlig kalt, was auf Social Media abgeht, dann stimmt das nicht. Weil die das teilweise alles lesen. Eines muss aber jedem klar sein: Wenn ich eine große Öffentlichkeit habe, und die habe ich dank Social Media, dann kann ich es nie allen Recht machen.
Simone Biles, Naomi Osaka, Mikaela Shiffrin – täuscht der Eindruck, oder fällt es der heutigen Sportler-Generation leichter, über Schwächen und Ängst zu reden?
Es gibt heute eindeutig eine neue Norm. Nämlich nicht mehr wie früher: Ein Sportler muss stark sein und darf keine Zweifel haben und keine Schwächen zeigen. Und wenn ein Fußballer sich vor einem Match erbricht, dann darf man das nicht laut sagen. In diesen Heldenstatus wurden die Sportler hineingeschoben. Simone Biles hat bei den Sommerspielen in Tokio das losgetreten, dass man sich traut, über Schwächen und Ängste zu reden. Diese negativen Facetten des Sports hat man lange nicht erkennen wollen. Es ist vermittelt worden, es gibt nur die Sonnenseiten. Ich weiß aus der Erfahrung, was im Kopf eines Athleten vorgeht. Wie viele Zweifel da vorhanden sind, welche Aggressionen, welcher Frust. Und das ist nicht nur vollkommen normal, sondern auch gesund. Weil es zum Leben dazugehört.
Ein Thema scheint immer noch tabu zu sein. Über Homosexualität im Spitzensport wird selten geredet.
Es existiert immer noch dieses Bild und dieses Image vom starken, unerschütterlichen Athleten. Das ist gerade in maskulinen Sportarten extrem ausgeprägt. Es können ja grundsätzlich die wenigsten von uns mit dem Thema Sexualität umgehen. Wenn man darüber redet, dann oft in Form eines Witzes oder man macht sich lächerlich. Keiner würde sagen, dass es Spitzensportler mit Erektionsproblemen gibt. Das darf man nicht, weil es nicht dem Image entsprechen würde. Aber lassen Sie mich noch eines sagen.
Bitte.
Ich denke, ein Outing an sich wäre wahrscheinlich das geringste Problem. Aber diese Zwischentöne und Zwischenbemerkungen, die Art und Weise, wie man demjenigen gegenübertritt als Teamkollege oder Gegner – da sind wir noch weit entfernt, dass das ohne Problem gehen würde.
Also ist die Zeit und die Gesellschaft noch nicht reif dafür?
Man muss sich nur einmal vorstellen, was los wäre, wenn sich zum Beispiel Cristiano Ronaldo outen würde. Da würde für einige die Welt zusammenbrechen und 50 Prozent vom Image wären weg. Der Spitzensport hat für sich gewisse Dinge gepachtet: Das ist Stärke, das ist Kontrolle, das ist Macht, das ist auch Begeisterung. Und Homosexualität widerstrebt dem einfach. Aber es gehört nun einmal zum Leben dazu. Warum soll ein homosexueller Sportler keine Topleistung bringen können? Warum soll er nicht stark sein können? Wir begreifen das ja grundsätzlich alle, das ist für uns nachvollziehbar und logisch, aber emotional passt das für die Gesellschaft nicht zusammen.
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