Anna Kiesenhofer: "Unter Fremden fühle ich mich nicht so wohl"
Anna Kiesenhofer gelang der ganz große Coup mit einer Soloflucht, ganz so, wie es ihrer Mentalität entspricht. Am 25. Juli fuhr die 30-Jährige der favorisierten Konkurrenz auf und davon und holte olympisches Gold im Straßenrennen der Frauen.
Der sensationelle Erfolg hat das Leben der Mathematikerin auf den Kopf gestellt, ihrem Beruf bleibt sie dennoch treu. Am Donnerstagabend steht Kiesenhofer als eine der drei nominierten Frauen für die Sportlerin des Jahres wieder im Rampenlicht. Sie befindet sich damit in einer Rolle, die ihr nicht so ganz behagt.
KURIER: Genießen Sie den Trubel um Ihre Person, etwa bei der Sportlerwahl?
Anna Kiesenhofer: Es sind gemischte Gefühle. Einerseits ist es schon schön, wenn man Anerkennung erfährt und bei so einer Wahl dabei ist. Andererseits ist das unmittelbare Genießen für mich etwas schwierig. Ich verkehre lieber im kleinen Kreis und stehe nicht gerne im Rampenlicht.
Anna Kiesenhofer wurde am 14. November 1991 in Kirchdorf an der Krems geboren. Die 30-Jährige ist promovierte Mathematikerin und arbeitet an der École polytechnique fédérale de Lausanne. Die Niederösterreicherin begann 2011 in Duathlon und Triathlon, musste sich verletzungsbedingt dann aber auf den Radsport konzentrieren. 2017 stand sie kurzzeitig beim Team Lotto Soudal unter Vertrag, beendete das Engagement aber vorzeitig. Heuer gewann sie Olympia-Gold im Straßenrennen
Sie sind introvertiert?
Mir mangelt es nicht an Selbstbewusstsein. Aber unter Fremden fühle ich mich oft nicht so wohl.
Man spricht oft von der Kehrseite der Medaille. Wie ist das bei Ihrer Goldmedaille?
Ich muss viel Zeit für Sachen verwenden, die ich eigentlich gar nicht machen will. Ich verbringe viel Zeit damit, einfach eMail-Anfragen abzusagen. Ab und zu eine Ehrung ist ja nett. Aber wenn es zu viel wird, habe ich das Gefühl, ich verschwende meine Zeit.
Wie sehr hat sich Ihr Leben verändert?
Völlig. Der ganze Trubel nach Tokio hat sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Ich habe dann in der Uni darum gebeten, dass man meine Lehrverpflichtung reduziert. Das war nötig. Die Alternative wäre gewesen, völlig zu verschwinden, eine Olympiasiegerin zu sein, die nicht mehr existiert für die Welt. Denn ich war ja vorher schon ausgebucht mit Arbeit und Training.
Sie gelten als Einzelkämpferin. Stimmt das?
Von einem Netzwerk in Österreich habe ich tatsächlich wenig profitiert. Außerhalb des staatlichen Netzwerkes habe ich aber schon sehr viel Hilfe bekommen von Einzelpersonen und erfahrenen Trainern. Radfahren und das Training sind so komplex, das kann ich ja nicht alles alleine erfinden. Der Unterschied zu anderen Sportlern ist aber, dass ich immer die Zügel in der Hand hatte und selbst gelenkt habe. Den roten Faden meiner sportlichen Karriere habe ich selbst gelegt. Ich habe halt nie in ein Förderschema gepasst.
Dann läuft aber etwas falsch im österreichischen Sport.
Das denke ich schon. Irgendwann habe ich erfahren, dass der Klaus Kabasser (der sportliche Leiter des Nationalteams; Anm.) das alles in seiner Freizeit gemacht hat. Das war schon sehr komisch.
Wie viele Stunden trainieren Sie pro Woche?
Da gibt es eine große Variation, aber es sind so ungefähr 20 Stunden.
Nutzen Sie das Fahrrad auch als Verkehrsmittel?
Auf jeden Fall auch als Transportmittel. Bis vor Kurzem hatte ich gar kein Auto. Wir machen alles mit dem Fahrrad, auch Einkäufe. Dafür habe ich ein Stadtrad.
Wurde Ihnen schon einmal nahegelegt, zu dopen?
Nein. Überhaupt nicht.
Sie haben sich dagegen entschieden, noch eine Profi-Karriere einzuschlagen. Warum wollten Sie nicht noch ein, zwei Jahre abkassieren?
Abkassieren und Profi-Radfahrerin sein ist ein Widerspruch in sich. Als Frau kann man nicht viel verdienen, auch nicht als Olympiasiegerin. Aber das Geld ist nicht der primäre Grund, dass ich so etwas ablehne. Der Profi-Zirkus passt nicht zu mir. Ich kenne das aus der Zeit, als ich bei Lotto Soudal war. Erstens passen die Rennen nicht zu mir, wo es oft sehr auf die Positionierung im Feld ankommt, wo man die Ellenbogen ausfährt und wo die Sturzgefahr sehr hoch ist. Zweitens ist dieser Lebensstil nichts für mich: Von Hotel zu Hotel ziehen, tun, was der Teamdirektor sagt, ständig fremdbestimmt sein ...
Sehen Sie Gemeinsamkeiten bei Mathematik und Sport?
Von der allgemeinen Herangehensweise schon. Man hat ein Ziel, das man lange und mit viel Hingabe verfolgt. Mir hat die grundsätzliche analytische Denkweise sehr geholfen. Dass man alles hinterfragt, dass man nicht jedem gleich glaubt, nur weil die Person sagt, sie kennt sich aus. Ich habe ein Problem mit Menschen, die sich als Experten darstellen, aber es gar nicht sind. Das stört mich so richtig. In der Mathematik habe ich diese kritische Denkweise gelernt. Und die hat mir im Sport schon geholfen. Ich brauche aber keine komplizierten Formeln, um meinen Trainingsplan zu schreiben.
Es gibt auch keine Formel für Ihren Olympiasieg?
Nein. Es gibt natürlich Formeln zwischen getretener Leistung, Geschwindigkeit und den diversen Widerständen wie Aerodynamik, aber in dieser Formel bin ich die Variable.
Verstehen Sie, weshalb so viele Menschen einen Horror vor der Mathematik haben?
Nein, nicht wirklich. Bei der Mathematik muss man geduldig sein, man darf Sachen nicht überstürzen. Man muss die Basis verstehen. Wenn man in der Schule ein paar Wochen nicht aufgepasst hat und dann wieder einsteigen will, dann geht das einfach nicht mehr. Man kann diese Definitionen nicht überspringen, sonst macht das alles keinen Sinn mehr. Da ist die Mathematik beinhart, man kann sich da nicht durchschummeln.
Hilft Ihnen die mathematische Ausbildung im täglichen Leben?
Die Integralrechnung braucht man im Alltag vermutlich wirklich nicht. Aber diese analytische Denkweise hat mir extrem geholfen, auch das logische Argumentieren. Ich finde es ja schade, dass man in der Schule immer das Rechnen lernt, aber viel zu wenig das logische Denken. Die Beweisführung kommt eigentlich erst im Studium. Mathematik ist viel mehr als rechnen.
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