Wo die 24 Stunden von Le Mans mehrere Wochen dauern
Seit 47 Jahren würfelt Thomas Svoboda Motorsport-Rennen mit Besessenheit und Detailliebe nach. Der KURIER spielte – kurz – einen Langstreckenklassiker aus 1968 mit.
Es ist 2:32 Uhr in der Nacht, als der KURIER am Daytona International Raceway eintrifft. Die Anreise zu der legendären Motorsportstrecke an der Atlantikküste Floridas verlief reibungslos und unspektakulär. Eine flotte Autostunde war dafür lediglich nötig von der österreichisch-tschechischen Grenze im Waldviertel.
Rennstreckenbetreiber ist Thomas Svoboda, ein Steirer. Der 61-Jährige öffnet die Tür zu seinem Haus in Český Krumlov. Kaum über die Schwelle getreten, steht man im Jahr 1968.
So weit, so verwirrend. Und kurios. Und spannend.
Thomas Svoboda ist motorsport-verrückt. Manche würden ihn Spinner nennen, aber das wäre für diesen freundlichen Mann mit der sanften Stimme und dem wachen Blick wenig schmeichelhaft, schlichtweg falsch. Der gebürtige Obersteirer spielt seit 47 Jahren auf einer selbst gebauten, 13,5 Meter langen Rennstrecke Motorsportrennen nach. Ein Formel-1-Rennen aus 1975, den 24-Stunden-Klassiker von Le Mans 2015 oder, wie beim Besuch des KURIER, die 24 Stunden von Daytona 1968. Die Boliden bewegen sich gerade durch die dunkle US-Nacht.
Svoboda spielt nur für sich und ist dabei ganz bei sich. „Ich weiß, was viele denken mögen. Aber ich tu niemanden damit weh und erspare mir dadurch vielleicht den Therapeuten“, sagt er. Ein bis zwei Stunden pro Tag widmet er seiner Passion, ein 24-Stunden-Bewerb dauert mehrere Wochen, der Daytona-Klassiker aus dem Jahr 1968 wird erst Ende April einen Sieger kennen.
Das von Svoboda selbst erdachte Regelwerk ist komplex, ausgedruckt auf DIN-A4-Seiten nimmt es mehrere dutzend Seiten in Anspruch. Einmal hat er das Handbuch ins Internet gestellt, um vielleicht Gleichgesinnte auf den Geschmack zu bringen. Nur einer hat sich gemeldet. „Nicht so schlimm, ich spiel’ ja vor allem für mich“, findet Svoboda.
Die Leidenschaft für Spielformen hat Svoboda gewissermaßen zu seinem Beruf gemacht. Er betreibt eine Zirkusschule sowie im Sommer die Theaterakademie in Graz.
Hier, in Český Krumlov, handelt es sich im Wortsinn um geschobene Rennen. Der Rundkurs ist in viele Sektoren unterteilt, entsprechend der gewürfelten Zahl darf ein Wagen weiter nach vorne geschoben werden. Svoboda rutscht dafür auf Knien durch das gesamte Zimmer. Um Verletzungen beim Abstützen zu vermeiden, trägt er einen Rennhandschuh. Stichwort Anstrengung: Bei einem Langstreckenrennen schiebt er die Autos gut und gerne 28 Kilometer durch sein Haus.
Von wegen analog
Der Ausgang des Original-Rennens spielt dabei eine entscheidende Rolle. Am Beispiel von Daytona 1968 bedeutet das: Jene 30 Autos, die nach 24 Stunden gewertet wurden, haben auch 2022 bessere Chancen, vorne zu landen. Wie das geht? Dank eines Computerprogramms, das der Rennleiter selbst geschrieben hat.
Vor dem Start füttert Svoboda den Computer mit allen Daten. Der Schweizer Pilot Jo Siffert, der in Daytona 1968 mit seinem Team im Porsche 907 die Gesamtwertung gewann, hat auch im tschechischen Zimmer höhere Chancen auf ein gutes Ergebnis.
Der Zufall führt dennoch oft Regie. Es ist gerade 2:42 Früh in Daytona, als das Computerprogramm plötzlich piepst, aufleuchtet und einen Zwischenfall signalisiert. Mario Andretti hat sich im Alfa Romeo gedreht. Zum Glück nur ein kleiner Ausrutscher, hat das Programm entschieden. Svoboda wirkt erleichtert. Aussetzen muss Andretti dennoch für ein paar Runden.
Kracht es heftiger, steht ein Safety Car in der Boxengasse bereit, das das Tempo (= die Höhe der gewürfelten Zahl) reduziert.
Durch das Zimmer geschoben werden übrigens Original-Modellautos. Rund 1.000 davon warten in Vitrinen und Regalen auf den Einsatz. Am Unterboden ist ein Strichcode angebracht, den Svoboda immer dann mit einem Handscanner abscannt, wenn ein Rennwagen eine Runde komplettiert hat. Das dient der Übersicht, und natürlich lassen sich dank dieser Daten ganz wunderbare Statistiken produzieren.
Im Schnitt kostet eines dieser Modellautos 50 Euro. Für all seine Schätze hätte er sich schon „eine schöne BMW-Limousine“ kaufen können. Er selbst fährt einen kleinen Peugeot. Nicht der Rede wert. Viel lieber spricht Svoboda über Le Mans 2015 und meint damit die Ausgabe von Český Krumlov. Alle drei Audis, im echten Rennen auf den Rängen drei, vier und sieben, seien ausgeschieden.
Wenn ich mit einem Rennen fertig bin, habe ich Benzingeruch in der Nase“
von Thomas Svoboda
über seine Passion
Vier Mal war Svoboda tatsächlich in Le Mans. „Natürlich faszinierend“, aber kaum unspektakulärer gehe es in seinem Spielzimmer zu. Einmal entschied sich ein Langstreckenklassiker nach mehreren Wochen Spielzeit mit der letzten Umdrehung des Würfels. „Wenn ich mit einem Rennen fertig bin, habe ich Benzingeruch in der Nase“, sagt Thomas Svoboda.
So weit sind wir bei Daytona 1968 noch lange nicht. Es ist gerade einmal Rennhalbzeit. Und Mario Andretti muss immer noch aussetzen.
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