Über Tirol nach Tokio: Von der Flucht vor dem IS zum Olympia-Starter
Das ÖOC hat den 21-jährigen Aker al Obaidi nominiert, der als 14-Jähriger den Irak verließ, in Österreich landete und schlussendlich in Tirol heimisch wurde.
Als Aker al Obaidi 2015 aus Mossul aufbrach, stand ihm der Sinn nicht nach Ringen oder den Olympischen Spielen. Für den damals 14-jährigen Buben ging es ums nackte Überleben. Die Obaidis gehören der christlichen Minderheit an, die im Irak regelmäßig Übergriffen ausgesetzt ist. Die Familie lebte im Untergrund und in permanenter Angst, von einem der Nachbarn oder Bekannten verraten zu werden, die sich fast allesamt dem Islamischen Staat angeschlossen hatten.
„Beim IS hattest du ein besseres Leben. Du hattest Geld, konntest einkaufen gehen. Wer nicht beim IS dabei war, der musste sich verstecken und in Löchern untertauchen“, erzählt Aker al Obaidi. „Wenn ich im Irak geblieben wäre, dann wäre ich heute nicht mehr am Leben.“
Aker al Obaidi lehnt entspannt an einer Matte im Turnsaal der Hauptschule Inzing, ein breites Grinsen zieht sich über sein Gesicht.
Wenige Tage zuvor hat er die Nachricht erhalten, dass er an den Olympischen Spielen in Tokio teilnehmen darf – mit 28 anderen Athleten bildet der Ringer (griechisch-römisch bis 67 Kilogramm) das Refugee Olympic Team, die offizielle Mannschaft der internationalen Flüchtlinge.
„Es war der beste Tag in meinem Leben, als ich erfahren habe, dass ich dabei sein darf.“
Ohne Staatsbürgerschaft
Offiziell gilt der 21-Jährige noch immer als Staatenloser, aber man kann jedem seiner Sätze entnehmen, wem er sich zugehörig fühlt, und wo er Wurzeln geschlagen hat. „I bin mehr Össchterreicher als Iraker“, sagt Aker al Obaidi. und dabei kommt ihm das Tirolerische leicht über die Lippen. Es beglückte ihn, den gebürtigen Iraker, den Staatenlosen, dass er vor seiner Abreise zu den Sommerspielen in Tokio von Bundespräsident Alexander Van der Bellen höchstpersönlich verabschiedet wurde. „Ich bin dankbar, dass ich hier leben darf. Ich möchte für immer hier bleiben.“
Mit seiner Heimat, in der er die ersten 14 Lebensjahre verbracht hatte, und wo seine Eltern und seine jüngeren Geschwister noch immer leben, verbindet ihn nichts mehr. Geblieben ist aber die Leidenschaft fürs Ringen, die seinerzeit im Irak in ihm geweckt wurde. Aker al Obaidis Vater war ein berühmter irakischer Ringer und arbeitete bis vor kurzem als Nationaltrainer.
Als junger Bub stand Aker al Obaidi gemeinsam mit seinem Vater auf der Ringmatte und wurde auch von ihm gecoacht. Es herrschte ein strenges Regiment. „Wenn ich auf der Matte war, durfte ich nicht Papa zu ihm sagen. Ich musste ihn Herr Trainer nennen. Wenn ich es einmal vergessen habe, bekam ich eine Ohrfeige. Er war sehr streng und sehr hart und hat mich nie gelobt“, erinnert sich der 21-Jährige.
Mit der Flucht aus Mossul ist der Kontakt zum Vater, der ohnehin nie ein herzlicher gewesen war, vollends abgerissen. Wenn Aker al Obaidi heute vom „Papa“ spricht, dann meint er den Mann, der neben ihm in der Turnhalle in Inzing sitzt. „Der Much ist mein Papa, das ist meine Familie. Das ist das, was mir im Irak gefehlt hat.“
Das Olympia-Flüchtlingsteam besteht aus Sportlern, die als anerkannte Flüchtlinge nicht für ihr Heimatland antreten können.
19 Sportler wurden in 12 Sportarten nominiert und nehmen an den Spielen in Tokio teil.
10 Sportlerinnen treten unter dem Namen EOR an, der für die französische Bezeichnung Equipe Olympique des Réfugiés steht.
Herkunft: Neun Sportler kommen aus Syrien, fünf aus dem Iran, vier aus dem Südsudan, drei aus Afghanistan.
Willkommen in Inzing
„Much“ hört auf den Namen Klaus und ist so etwas wie der „Mister Ringen“ in Inzing. In der 3.500-Einwohnergemeinde unweit von Innsbruck ist Ringen Volkssport, der lokale RSC gehört zum Inventar der österreichischen Bundesliga. Wer in Inzing groß wird, der legt gerne andere aufs Kreuz, aktuell hat der Verein 70 Nachwuchsringer in seinen Reihen. RSC-Obmann Klaus Draxl ist es zu verdanken, dass Aker al Obaidi in Tokio am Start ist. Der engagierte Sportfunktionär hat den jungen Ringer nach Inzing gelotst, ihn in seine Familie aufgenommen und dem damals 15-Jährigen eine neue Heimat und damit eine neue Lebensperspektive gegeben. „Er hat gesagt, dass er Anschluss sucht und eine Familie. Ich hab’ ihm geantwortet: Ja, dann: Herzlich willkommen in Inzing.“
Aker al Obaidi hatte eine Odyssee hinter sich, die nach einem Aufenthalt im Flüchtlingslager Traiskirchen schließlich in Graz ein Ende nahm. Als er 2015 aus seiner Heimatstadt loszog, hatte er kaum Habseligkeiten bei sich. Was ihn antrieb, war die ältere Nachbarin, die ihn auf dem langen Weg vom Irak nach Europa begleitete, und die Hoffnung auf ein besseres Leben, ein Leben in Frieden, in Freiheit. „Ich hatte kein Ziel, ich wollte einfach nur weg. Von Österreich hatte ich vorher noch nie etwas gehört.“
Gefährliche Flucht
Hätte Aker al Obaidi gewusst, was bei seiner wochenlangen Flucht alles auf ihn zukommen würde, wer weiß, ob er diesen Schritt jemals gewagt hätte. Immer wieder lief er Gefahr, von der Polizei erwischt zu werden, der Teenager lernte rasch, sich zu verstecken und keine Aufmerksamkeit zu erregen. Vor allem lernte er schnell, wem er vertrauen konnte und wem er lieber aus dem Weg ging. „Ich habe tagelang mit nasser Kleidung, ohne Essen im Wald geschlafen. Viele Leute sind unterwegs gestorben, sie sind im Meer ertrunken oder wurden ermordet. Ich wundere mich heute noch, wie ich es nach Österreich geschafft habe“, sagt Al Obaidi. „Wahrscheinlich habe ich das nur geschafft, weil ich ein Sportler bin und einen großen Ehrgeiz habe, meine Ziele zu erreichen.“
Als er später in Graz beim Geographie-Unterricht einen Atlas in die Hände bekam, und seine Fluchtroute vom Irak nach Österreich erstmals nachvollziehen konnte, wurde ihm bewusst, was er damals als 14-Jähriger auf sich genommen hatte. „Wahnsinn, welche Reise ich da gemacht habe.“
Viele Leute sind unterwegs gestorben, sie sind im Meer ertrunken oder wurden ermordet.
von Aker Al Obaidi
über seine Flucht aus dem Irak
Eine beschwerliche Reise, die für ihn in Inzing ein so erfreuliches Ende genommen hat. Aker al Obaidi ist in der Tiroler Gemeinde heimisch geworden, er hat eine Freundin und er hat heute Heimweh nach Inzing, wenn er mit seinen Teamkollegen länger auf Trainingslager im Ausland ist. „Ich brauche keinen Urlaub. Wenn man im Irak gelebt hat, dann weiß man, was es bedeutet, unfrei zu sein. Ich weiß es zu schätzen, wie gut es mir hier geht.“
All seine Erlebnisse und Erfahrungen, die er mit seinen erst 21 Jahren bereits gemacht hat oder machen musste, würden ihm nun auch beim Ringen helfen, sagt er nachdenklich. Den Dritten der Junioren-EM 2019 kann nichts mehr so schnell aus dem Gleichgewicht bringen. „Ich habe zwei Hände, ich bin gesund und lebe auf dem besten Platz der Welt. Was will ich mehr?“
Es gäbe da schon noch etwas, das Aker al Obaidi, der staatenlose Inzinger aus Mossul, noch mehr herbeisehnt als diesen Start bei den Sommerspielen in Tokio: Die österreichische Staatsbürgerschaft. „Bei den Olympischen Spielen 2024 will ich für Österreich kämpfen und dann Geschichte schreiben.“
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