Auf Gras statt Schnee: Das ist der Marcel Hirscher des Sommers

Wenn der Berg ruft, dann zieht es den Innsbrucker Hannes Angerer tief in den Osten von Österreich. Dort, und nur dort, findet der 27-Jährige die Steilhänge, die ihm Berge geben. Für einen Ottonormalskifahrer mag Tirol das Paradies auf Erden sein, wer wie Hannes Angerer aber grüne Wiesen den weißen Pisten bevorzugt, der hat im Herzen der Alpen nichts verloren. "Wenn ich trainieren will, muss ich ins Burgenland oder nach Niederösterreich fahren", sagt Hannes Angerer, der aktuelle Gesamtweltcupsieger im Grasskifahren.
Ein Tiroler, der dem Sommerskilauf frönt, das ist wie ein Eishockeyspieler aus der Sahara. Natürlich kennt Hannes Angerer die irritierten Blicke und dieses Stirnrunzeln, wenn er von seiner großen Leidenschaft spricht.
"Am Anfang lachen die meisten und fragen, ob das mein Ernst ist. Aber sobald ich mehr darüber erzähle, umso interessanter finden die Leute das Grasskifahren. Ich hätte noch nie etwas Negatives gehört."
Andere Technik
All jenen Skifahrern, die jetzt die grünen Kollegen vielleicht milde belächeln und als Spinner abtun, sei empfohlen, sich einmal auf die kurzen Grasski zu stellen und eine Wiese hinunter zu carven. Sie werden unweigerlich ins Gras beißen. Selbst Alpinstars wie Matthias Mayer oder Manuel Feller würden da wie Anfänger aussehen. "Ich kann garantieren, dass es sie zumindest einmal voll auf die Pfeife haut", sagt Hannes Angerer. "Das, was du vom Winter gewöhnt bist, funktioniert nämlich mit unserem Material nicht."

Grasskifahrer können keinen Bremsschwung einlegen oder Dahinrutschen. Wer auf die wahnwitzige Idee kommt, einen Pflug zu probieren, der fabriziert zwangsläufig einen Bauchfleck. "Du musst immer rollen und schön umlegen", erklärt Hannes Angerer.
Natürlich war der Tiroler nicht von klein auf als Grasskifahrer unterwegs. Wie viele andere Kinder träumte auch Hannes Angerer von einer großen Alpinkarriere. Doch die horrenden Kosten und die schlechten Perspektiven haben ihn zum Grasskiläufer konvertieren lassen. Nach einem Schnuppertraining war er dermaßen begeistert, dass er fortan lieber im Sommer als im Winter auf den Brettl’n stand. Und schnell hatte er mit den Rollen den Dreh heraußen, wie seine Erfolge beweisen.
1971 wurde erstmals ein Europacup ausgetragen. Seit 2000 gibt es einen eigenen Weltcup. Grasski ist heute FIS-Mitglied.
Disziplinen: Im Weltcup werden Slalom, Riesentorlauf und Super-G gefahren. Die Torabstände sind gleich wie im Winter.
700 Euro kostet ein Paar Rennski von Hannes Angerer. Es gibt mehrere Ski-Produzenten in Tschechien, Österreich oder Japan. Sonst unterscheidet sich die Ausrüstung kaum von den Rennläufer-Kollegen im Winter. Helm, Rennanzug, Rückenprotektor, die Athleten verwenden die gleichen Skischuhe.
"Ich bin jetzt Gesamtweltcupsieger und habe daheim die gleiche Kristallkugel stehen wie Marco Odermatt", sagt der 27-Jährige. "Und im Grasskifahren sind jetzt auch keine Haubentaucher dabei."
Dafür steckt auch in diesem Nischensport mittlerweile zu viel Technologie, das Material spielt auch bei den Grasskifahrern eine wichtige Rolle. Was im Winter das Skiwachs, das ist im Sommer das Schmieröl. Die Rollen an den Skiern müssen vor den Rennen eingeölt werden. "Da scheiden sich die Geister, welches Öl am besten funktioniert", erklärt Hannes Angerer, der sein bevorzugtes Öl nicht verraten will. Betriebsgeheimnis. Nur so viel: Es muss aus Umweltgründen biologisch abbaubar sein.

Feucht macht fröhlich
Überhaupt die Pisten: Jeder Grasskifahrer merkt schnell, dass Wiese nicht gleich Wiese ist. "Wenn es richtig trocken und heiß ist, hast du das Gefühl, du fährst auf Beton", berichtet Hannes Angerer. Bei solchen Verhältnissen muss er nach einem Slalom den Rollensatz austauschen. Kostenpunkt: Bis zu 100 Euro.
Am liebsten haben’s die Grasskifahrer, wenn’s regnet und die Piste nass ist. "Dann geht’s dahin und es wird richtig schnell." Im Super-G können Geschwindigkeiten bis zu 100 km/h erreicht werden.
Der Weltcup führt Hannes Angerer und seine Kollegen in diesem Sommer wieder in das Herz des Grasskifahrens. Was im Alpinsport Österreich, das ist im Grasskifahren der Iran. "Dort sind mindestens 10.000 Leute bei den Rennen. Im Iran bist du als Grasskifahrer ein gefeierter Volksheld."
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